Wo die Liebe ist, da ist auch Gott. Leo Tolstoi
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Awdejitsch brachte sie auseinander, fasste den Jungen an der Hand und sagte: »Lass ihn laufen, Großmutter, vergib ihm um Christi willen.«
»Ich will ihm so vergeben, dass er bis zum Frühling dran denken wird! Auf die Polizei bring ich den Halunken!«
Da verlegte sich Awdejitsch aufs Bitten. »Lass ihn laufen, Großmutter, er wird’s nie mehr tun. Lass ihn laufen um Christi willen.«
Da ließ die Alte den Jungen los, der Junge wollte sich davonmachen, aber Awdejitsch hielt ihn fest.
»Bitte die Großmutter um Vergebung«, sagte er. »Und in Zukunft tust du so was nicht wieder! Ich habe gesehen, wie du den Apfel gemaust hast.«
Der Junge weinte und bat um Verzeihung.
»So ist’s recht. Und da hast du einen Apfel!«, Awdejitsch nahm einen Apfel aus dem Korb und gab ihn dem Jungen. »Ich bezahl’s dir, Großmutter«, sagte er zur Alten.
»Du verdirbst den Schlingel bloß«, sagte die Alte. »Er hätte einen Denkzettel kriegen müssen, den er noch in einer Woche nicht vergessen hätte.«
»Ach Großmutter, Großmutter«, sagte Awdejitsch, »so denken wir, aber Gott denkt anders. Wenn er für einen Apfel geprügelt werden soll, was müsste uns dann für unsere Sünden geschehen?«
Da schwieg die Alte.
Und Awdejitsch erzählte der Alten das Gleichnis, wie der Herr dem Knecht seine ganze große Schuld erließ und wie der Knecht hinging und seinen Schuldner bedrängte. Die Alte hörte die Geschichte an, und auch der Junge stand dabei und hörte zu.
»Gott will, dass wir vergeben«, sagte Awdejitsch, »sonst wird auch uns nicht vergeben. Allen soll man vergeben, dem Unvernünftigen aber erst recht.«
Die Alte schüttelte den Kopf und seufzte. »Das ist schon richtig«, sagte sie, »treiben’s aber gar zu toll.«
»Dann müssen wir Alten sie eines Besseren belehren«, sagte Awdejitsch.
»Das mein ich auch«, sagte die Alte. »Ich hatte selbst ihrer sieben, von allen ist nur noch eine Tochter am Leben.« Und die Alte erzählte, wo und wie sie bei ihrer Tochter lebe und wie viel Enkelkinder sie habe. »Ja, ja«, sagte sie, »ich bin schon so alt und schwach und arbeite doch immer noch. Es ist mir nur um die Enkelkinder, die sind gar zu lieb. Niemand ist so gut zu mir wie sie. Axiutka, die geht überhaupt nicht von meiner Seite. ›Liebe Großmutter, Herzensgroßmutter!‹« Die Alte war ganz weich geworden.
»Na ja, Jugend hat keine Tugend. Mag er in Gottes Namen seines Weges gehen«, sagte sie mit einem Blick auf den Jungen.
Aber wie sie nun den Sack auf die Schulter nehmen wollte, sprang der Junge herbei und sagte: »Ich will dir’s tragen, Großmutter! Ich hab denselben Weg.«
Die Alte schüttelte den Kopf und lud dem Jungen den Sack auf.
Und so gingen sie nebeneinander die Straße entlang. Die Alte hatte aber vergessen, von Awdejitsch das Geld für den Apfel zu verlangen. Awdejitsch stand da und blickte ihnen nach und hörte, dass sie immer miteinander sprachen.
Als er ihnen so das Geleit gegeben hatte, ging er in seine Wohnung zurück, fand die Brille, die heil geblieben war, auf der Treppe, hob die Ahle auf und machte sich wieder an die Arbeit. Eine Zeit lang arbeitete er noch, dann wurde es so dunkel, dass er die Borsten nicht mehr einziehen konnte, und nun sah er auch den Laternenanzünder kommen. ›Jetzt muss ich wohl auch Licht machen‹, dachte er, zündete sein Lämpchen an, hängte es an die Wand und arbeitete weiter. Einen Stiefel machte er ganz fertig; er besah ihn von allen Seiten – die Arbeit war gut. Nun packte er sein Werkzeug zusammen, fegte die Abfälle weg, legte die Borsten, Drähte und Ahlen beiseite, nahm die Lampe, stellte sie auf den Tisch und holte das Evangelium vom Regal. Er wollte das Buch an der Stelle aufschlagen, wo er gestern einen Streifen Saffian als Zeichen eingelegt hatte, aber es öffnete sich an einer anderen Stelle. Und als Awdejitsch das Buch aufschlug, da fiel ihm wieder sein gestriger Traum ein. Und kaum dachte er daran, da hörte er etwas rascheln, als ginge jemand hinter ihm. Awdejitsch sah sich um: da war es, als ständen Menschen in der dunklen Ecke, aber er konnte sie nicht erkennen.
Und eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Martin, Martin! Hast du mich nicht erkannt?«
»Wen denn?«, fragte Awdejitsch.
»Mich«, sagte die Stimme, »ich war es doch!«
Und aus der dunklen Ecke trat Stepanytsch, lächelte und zerfloss wie eine Wolke, dass er nicht mehr zu sehen war …
»Und auch das war ich«, sagte die Stimme wieder. Und aus der dunklen Ecke trat die Frau mit dem Kind, und die Frau lächelte, und das Kind lachte, und dann verschwanden sie auch.
»Und auch das war ich«, sagte die Stimme. Und es erschien die Alte und der Junge mit dem Apfel und beide lächelten und verschwanden ebenfalls.
Und eine große Freude erfüllte Awdejitschs Seele. Er bekreuzigte sich, setzte die Brille auf und las die Stelle im Evangelium, an der er das Buch aufgeschlagen hatte. Und ganz oben auf der Seite las er:
›Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt.‹
Und unten auf der Seite las er:
›Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!‹ (Matthäus 25)
Und Awdejitsch erkannte, dass sein Traum ihn nicht betrogen hatte, dass an dem Tage der Heiland wirklich zu ihm gekommen war und er ihn aufgenommen hatte.
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