Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке. Густав Майринк
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Читать онлайн книгу Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке - Густав Майринк страница 10
Die Alte verzog ihren Mund zu einem lautlosen Grinsen.
„Bittschän, man hat mir, här’ ich, nämlich gesagt, dass er sich hier gewesen is.“
Die Alte grinste weiter wie eine Leiche.
Der sonderbare Kerl wurde sichtlich betreten.
„Ich soll nämlich dem Herrn kaiserlichen Leibharz – “
„Ich kenn’ keinen kaiserlichen Leibarzt!“ schrie die „böhmische Liesel“ jäh los – „Schauen Sie, dass Sie hinauskommen, Sie Rindvieh!“
Blitzartig schloss sich die Türe und der nasse Schwamm, den die Alte von der Schiefertafel abgerissen und nach dem Besuch geschleudert hatte, fiel klatschend zu Boden. —
„Es war nur der Stefan Brabetz“, kam sie der Frage des Konservatoristen zuvor. „Er ist ein Privatspitzel. Er verkleidet sich jedesmal anders und glaubt, dann kennt man ihn nicht. – Wenn irgendwo etwas los ist, dann schnüffelt er’s heraus. Er möcht dann immer was erpressen, aber er weiß nie, wie er’s machen soll. – Er ist von unten. Aus Prag. – Da sind sie alle so ähnlich. – Ich glaub’, das kommt von der geheimnisvollen Luft, die aus dem Boden steigt. – Alle werden sie im Lauf der Zeit so wie er. Einer früher, einer später, außer sie sterben vorher. – Wenn einer dem anderen begegnet, grinst er hämisch, bloß damit der andere glaubt, man weiß was über ihn. – Hast d’ es noch nie bemerkt, Buberl“ – sie wurde seltsam unruhig und begann ruhelos im Zimmer hin und her zu wandern – „dass in Prag alles wahnsinnig is? Vor lauter Heimlichkeit? – Du bist doch selbst verrückt, Buberl, und weißt es bloß nicht! – Freilich, hier oben auf dem Hradschin, da is eine andere Art Wahnsinn. – Ganz anders als unten. – So – so mehr ein versteinerter Wahnsinn. – Wie überhaupt hier oben alles zu Stein geworden ist. – Aber wenn’s einmal losbricht, dann is es, wie wenn steinerne Riesen plötzlich anfangen zu leben und die Stadt in Trümmer schlagen – hab ich“ – ihre Stimme sank zu leisem Gemurmel herab – „hab’ ich mir als kleines Kind von meiner Großmutter sagen lassen. – Ja, na ja, und der Stefan Brabetz, der riechts wahrscheinlich, dass hier auf dem Hradschin irgendwas in der Luft is. Irgendwas los.“
Der Student verfärbte sich und blickte unwillkürlich scheu nach der Tür. „Wieso? Was soll los sein?“
Die „böhmische Liesel“ redete an ihm vorbei: „Ja, glaub mir, Buberl, du bist jetzt schon verrückt. – Vielleicht willst du wirklich Kaiser der Welt werden.“ – Sie machte eine Pause. „Freilich, warum soll’s nicht möglich sein? – Wenn’s in Böhmen nicht so viele Wahnsinnige gäb’, wie hätTs sonst immer der Herd der Krieg sein können! – Ja, sei nur verrückt, Buberl! Dem Verrückten gehört am Schluss doch die Welt. – Ich bin ja auch die Geliebte vom König Milan Obrenowitsch gewesen, bloß weil ich geglaubt hab’, dass ich’s werden kann. – Und wieviel hat gefehlt, wär’ ich Königin von Serbien geworden!“ – Es war, als erwache sie plötzlich – „Warum bist du eigentlich nicht im Krieg, Buberl? – So? Einen Herzfehler? – Noja. – Hm. – Und warum meinst du, bist du kein Boriwoj?“ – Sie ließ es nicht zur Antwort kommen – „Und wohin gehst du jetzt, Buberl, da mit der Geige?“
„Zur Frau Gräfin Zahradka. Ich soll ihr vorspielen.“
Die Alte sah überrascht auf, studierte wieder lang und aufmerksam den Gesichtsausschnitt des jungen Mannes und nickte dann, wie jemand, der seiner Sache gewiss ist. „Ja. Hm. Boriwoj. – No, und hat sie dich gern, die Zahradka?“
– „Sie ist meine Patin.“
Die „böhmische Liesel“ lachte laut auf: – „Patin, hähä, Patin!“
Der Student wusste nicht, wie er sich das Gelächter deuten solle. Er hätte seine Frage nach Jan Zizka gern wiederholt, aber er sah ein, dass es vergeblich wäre.
Er kannte die Alte zu lange, um nicht aus ihrer plötzlich ungeduldig gewordenen Miene zu entnehmen, dass sie wünschte, die Audienz beendet zu sehen. —
Mit einem verlegen gemurmelten Dank drückte er sich zur Tür hinaus.
Er war kaum des alten im Abendrot träumenden Kapuzinerklosters, an dem er auf seinem Wege zum Palais der Gräfin Zahradka vorbei musste, ansichtig geworden, da erklang dicht nebenan, als wolle es ihn begrüßen, gleich einem zauberhaften Orchester von Äolsharfen, das ehrwürdige Glockenspiel der St.– Loretto-Kapelle und zog ihn in seinen magischen Bann.
Eingehüllt von melodisch schwingenden Luftwellen, die ihn umfingen – getränkt von Blütenhauch aus den verborgenen nahen Gärten – wie der unendlich weiche liebkosende Schleier einer unsichtbaren Himmelswelt, blieb er ergriffen stehen und lauschte, bis es ihm schien, als mischten sich die Töne eines alten Kirchenliedes darein, gesungen von tausend fernen Stimmen. Und wie er horchte, da war es, als käme es aus seinem Innern – dann wieder, als schwebten die Klänge ihm zu Häupten, um echogleich in den Wolken zu ersterben – bald so nahe, dass er glaubte, die lateinischen Worte der Psalmodie zu verstehen, bald – verschlungen vom hallenden Dröhnen aus dem erzenen Munde der Glocken – nur noch in leisen Akkorden, wie aus unterirdischen Kreuzgängen herauf.
Sinnend schritt er über den mit hellen Birkenzweigen festlich geschmückten Hradschinplatz an der königlichen Burg vorüber, an deren steinerner Resonanz sich die Wogen der Töne brachen, dass er seine Geige in dem hölzernen Kasten vibrieren fühlte, als sei sie in ihrem Sarge lebendig geworden.
Dann stand er auf der Plattform der neuen Schlossstiege und sah die breite Flucht der zweihundert balustradenumsäumten Granitstufen auf ein sonnenbeglänztes Dächermeer hinab, aus dessen Tiefe, einer ungeheuren schwarzen Raupe gleich, eine Prozession langsam heraufkroch.
Tastend schien sie ihren silbernen Kopf mit den purpurgefleckten Fühlern in die Höhe zu heben, wie unter dem weißen Baldachin, den vier Geistliche in Alba und Stola trugen, der Fürsterzbischof mit rotem Scheitelbarett und die Füße in rotseidenen Schuhen, das goldgestickte Pluvial um die Schultern, der singenden Menge voran Stufe um Stufe emporschritt.
In der warmen, unbeweglichen Abendluft schwebten die Flammen über den Kerzen der Ministranten kaum wahrnehmbar als durchsichtige Ovale und zogen dünne schwarze Qualmfäden durch die bläulichen Schwaden der feierlich geschwungenen Weihrauchgefäße hinter sich drein.
Das Abendrot lag auf der Stadt, glomm in Purpurstreifen über die langen Brücken, strömte – in Blut verwandeltes Gold – im Flusse unter ihren Pfeilern dahin.
Loderte in tausend Fenstern, als stünden die Häuser in Brand.
Der Student starrte in das Bild hinein; die Worte der alten Frau und was sie von der Moldau gesagt und dass ihre Wellen einstens rot gewesen, klangen ihm in den Ohren; das Schaugepränge, das die Schlossstiege herauf immer näher und näher ihm entgegenzog: Einen Augenblick ergriff es ihn wie Betäubung; ja so müsste es sein, wenn sein wahnwitziger Traum, gekrönt zu werden, dereinst Erfüllung gefunden haben würde.
Er schloss eine Minute die Augen, um nicht zu sehen, dass sich Leute neben ihn gestellt hatten, die das Kommen der Prozession erwarteten – eine kurze Spanne Zeit nur noch wollte er sich gegen das Gefühl einer nüchternen Gegenwart wehren.
Dann wandte er sich um und durchquerte die Schlosshöfe der Burg, um auf andern menschenleeren Wegen noch rechtzeitig in die Thunsche Gasse zu gelangen.