Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке. Густав Майринк
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке - Густав Майринк страница 5
„Wie die Damoklesschwerter wären seit Menschengedenken die ‘Flugbeile’, die alle kaiserliche Leibärzte gewesen waren – über Böhmens sämtlichen gekrönten Häuptern gehangen, bereit, unverzüglich auf ihre Opfer niederzufallen, sowie sich bei diesen auch nur die geringsten Anzeichen einer Krankheit zeigen wollten.“ – war ein Sprichwort, das, auf dem Hradschin in Adelskreisen gang und gäbe, eine gewisse Bestätigung darin zu finden schien, dass mit dem Hinscheiden der Kaiserinwitwe Maria Anna tatsächlich auch das Geschlecht der Flugbeile in seinem letzten Sprossen, dem Hagestolz Thaddäus Flugbeil, genannt der Pinguin, dem Erlöschen geweiht war.
Das Junggesellenleben des Herrn kaiserlichen Leibarztes, genau geregelt wie der Gang einer Uhr, hatte durch das nächtliche Abenteuer mit dem Schlafwandler Zrcadlo eine unliebsame Störung erlitten.
Allerlei Traumbilder waren durch seinen Schlummer geschritten, und schließlich hatte sich darin sogar der Schatten von schwülen Erinnerungen aus der Jugendzeit verirrt, in denen die Reize der „böhmischen Liesel“ – natürlich, als diese noch schön und begehrenswert gewesen – eine nicht unwesentliche Rolle spielten.
Ein neckisches, konfuses Gegaukel von Phantasien, in dem das ungewohnte Gefühl, er halte einen Bergstock in der Hand, gewissermaßen den Glanzpunkt bildete, weckte ihn schließlich zu ungebührlich früher Stunde.
Jedes Frühjahr, genau am 1. Juni, pflegte der Herr kaiserliche Leibarzt zur Kur nach Karlsbad zu fahren und zu diesem Zwecke, da er die Eisenbahn verabscheute, die er für eine jüdische Einrichtung hielt, eine Droschke zu benützen.
Wenn Karlitschek, so hieß der isabellfarbige Klepper, der den Wagen ziehen durfte, den eindringlichen Weisungen seines alten, rotbewesteten Kutschers gemäß, den fünf Kilometer entfernten Prager Vorort Holleschowitz erreicht hatte, wurde jedesmal die erste Nachtrast gemacht und am nächsten Tag die dreiwöchentliche Fahrt in längeren oder kürzeren Etappen, je nachdem Karlitschek, das wackre Ross, gelaunt war, fortgesetzt – in Karlsbad angelangt, konnte sich’s dann bis zur Rückreise an Hafer dick und rund fressen, bis es einer rosabschimmernden Wurst auf vier dünnen Stelzbeinen glich, derweilen der Herr Leibarzt sich selbst Bewegung per pedes[3] verordnete. Das Erscheinen der roten Datumsziffer 1. Mai auf dem Abreißkalender über dem Bette gab sonst immer das Zeichen, dass es höchste Zeit sei, die Koffer zu packen, aber diesmal würdigte der Herr kaiserliche Leibarzt den Block keines Blickes, ließ den 30. April, der den schauerlichen Unterdrück „Walpurgisnacht"[4] trug, unberührt hängen, begab sich an seinen Schreibtisch, nahm einen ungeheuren schweinsledernen, mit Messingecken verzierten Folianten vor, der schon von seinem Urgroßvater an jedem männlichen Flugbeil als Diarium gedient hatte, und begann unter den Aufzeichnungen seiner Jugendjahre nachzublättern, ob sich nicht vielleicht auf diesem Wege feststellen lasse, ob, wann und wo er dem unheimlichen Zrcadlo schon früher begegnet sei – denn der Gedanke, dass dies der Fall sein müsse, quälte ihn unablässig. —
Seit seinem fünfundzwanzigsten Jahre und von dem Datum angefangen, als sein Vater gestorben war, hatte er pünktlich jeden Morgen seine Erlebnisse – genau – wie einst seine seligen Vorfahren eingetragen und jeden Tag mit fortlaufenden Zahlen versehen. – Der heutige trug bereits die Ziffer 16.177. —
Da er nicht hatte wissen können, dass er Junggeselle bleiben und daher keine Familie hinterlassen werde, hatte er – ebenfalls nach dem Vorbilde seiner Ahnen – von Anfang an alles, was Liebesangelegenheiten betraf, durch Geheimschrift und Zeichen, die nur er allein enträtseln konnte, für unberufene Augen unlesbar gemacht.
Solcher Stellen gab es in diesem Buche rühmenswerterweise nur wenige; sie verhielten sich hinsichtlich Häufigkeit des Vorkommens zur Zahl der ebenfalls sorgfältig gebuchten, im Gasthaus „zum Schnell" verzehrten Gulasch etwa wie 1 zu 300.
Trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der das Diarium geführt war, konnte der Herr Leibarzt keine Stelle finden, die auf den Schlafwandler irgendwelchen Bezug gehabt hätte, und enttäuscht klappte er das Buch endlich zu.
Schon beim Blättern hatte ihn ein unbehagliches Gefühl beschlichen: Während des Durchlesens der einzelnen Notizen waren ihm – zum ersten Mal – unwillkürlich zu Bewusstsein gekommen, wie unsäglich eintönig, im Grunde genommen, seine Jahre dahingeflossen waren.
Zu anderen Zeiten hätte er es wie Stolz empfunden, sich eines Lebens, so regelmäßig und abgezirkelt wie das kaum eines der exklusivsten Hradschiner Adelskreise rühmen zu können, und dass auch seinem Blute – trotzdem es nicht blau und nur bürgerlich war – jegliche Hast und jegliche plebejische Fortschrittsgier seit Generationen abhanden gekommen sei – mit einem Mal kam es ihm aber jetzt unter dem noch frischen Eindruck des nächtlichen Geschehnisses im Hause Elsenwanger vor, als wäre ein Trieb ihn ihm erwacht, für den er nur hässliche Namen finden konnte. Namen wie: Abenteuersucht, Unbefriedigtsein oder Neugierde, unerklärlichen Vorgängen nachforschen zu wollen und dergleichen mehr.
Befremdet sah er sich in der Stube um. Die schmucklosen, weißgekalkten Wände störten ihn. Früher hatten sie ihn doch nie gestört! – Warum plötzlich jetzt?
Er ärgerte sich über sich selbst.
Die drei Zimmer, die er bewohnte, lagen im südlichen Flügel der königlichen Burg, die ihm die k. k. Schlosshauptmannschaft, als er pensioniert worden war, angewiesen hatte. Von einer vorgebauten Brüstung aus, in der ein mächtiges Fernrohr stand, konnte er hinab in die „Welt“ – nach Prag – sehen und dahinter, am Horizont, noch die Wälder und sanft gewellten grünen Flächen einer Hügellandschaft unterscheiden, während ein anderes Fenster den oberen Flusslauf der Moldau[5] – ein silberig glitzerndes Band, das sich in dunstiger Ferne verlor – als Aussicht bot.
Um seine wildgewordenen Gedanken ein wenig zur Ruhe zu bringen, trat er an das Teleskop und richtete es auf die Stadt, wobei er sich, wie es seine Gewohnheit war, vom Zufall die Hand führen ließ.
Das Instrument vergrößerte in außerordentlichem Maße und hatte infolgedessen nur ein winziges Gesichtsfeld, so dass dem Beschauer die Gegenstände, auf die es gerichtet wurde, so dicht ans Auge gerückt erschienen, als stünden sie in seiner unmittelbaren Nähe.
Der Herr kaiserliche Leibarzt beugte sich zur Linse nieder mit dem unwillkürlichen, kaum gedachten, heimlichen Wunsche, einen Schornsteinfeger auf einem Dache oder sonst irgendein glückverheißendes Omen zu erblicken, fuhr aber gleich darauf mit einem Ausdruck des Schreckens zurück.
Das Gesicht der „böhmischen Liesel“ hatte ihn nämlich lebensgroß, hämisch verzerrt und mit den wimperlosen Lidern blinzelnd, als sehe und erkenne sie ihn gar wohl, angegrinst!
So schreckhaft und ungeheuerlich war der Eindruck gewesen, dass der Herr Leibarzt an allen Gliedern zitterte und eine Weile bestürzt an dem Fernrohr vorbei in den sonnendurchflimmerten Luftraum starrte, jede Sekunde gewärtig, die alte Vettel leibhaftig und womöglich auf einem Besen reitend als Gespenst vor sich auftauchen zu sehen.
Als er sich schließlich aufraffte – zwar voll Staunens darüber, wie seltsam der Zufall gespielt hatte, aber immerhin froh, sich die Sache ganz natürlich erklären zu können – und wieder durch das Instrument blickte, war wohl die Alte verschwunden, und nur noch fremde, ihm gleichgültige Gesichter zogen an dem Sehfeld vorbei, aber es wollte ihm scheinen, als läge in ihren Mienen eine seltsame Aufregung – eine Spannung, die sich auf ihn übertrug.
Er erkannte aus der Hast, mit der sie einander verdrängten, aus den Gestikulationen der Hände, den eilfertig schwätzenden Lippen, aus den zeitweilig weit aufgerissenen Mündern, die Schreie auszustoßen schienen, dass ein Volksauflauf entstanden sein müsse, dessen Ursache sich jedoch wegen der großen Entfernung nicht feststellen ließ.
3
per pedes
4
Walpurgisnacht – Вальпургиева ночь
5
Moldau – немецкое название Влтавы, левого притока Эльбы, которая протекает через Прагу и делит город на две части.