Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке. Густав Майринк

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Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке - Густав  Майринк Klassische Literatur (Каро)

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mit Zeitungspapier verklebten Scheiben gerann.

      Ein junges, in Lumpen gehülltes Weib, das Gesicht leichenhaft eingefallen und verhärmt, die Augen tief in den Höhlen, saß in dem Rahmen und hielt den Blick mit stumpfer vertierter Gleichgültigkeit unbeweglich auf ein skelettartig abgemagertes kleines Kind gerichtet, das vor ihr lag und offenbar in ihren Armen gestorben war. —

      Das grelle Sonnenlicht, das die beiden umfing, ließ jede Einzelheit mit grausamer Schärfe erkennen und vertiefte mit seinem jubelvollen Frühlingsglanz den furchtbaren Missklang zwischen Jammer und Freude bis zur Unerträglichkeit.

      „Der Krieg. Ja, der Krieg“, seufzte der Pinguin und versetzte dem Rohre einen Stoß, um sich durch den grässlichen Anblick nicht unnötigerweise den Appetit für sein Gabelfrühstück zu verderben.

      „Der rückwärtige Eingang eines Theaters oder so etwas Ähnliches muss das sein“, murmelte er sinnend, als sich gleich drauf eine neue Szene vor ihm abrollte: Zwei Arbeiter trugen, begafft von zahlreichen Gassenjungen und knicksenden alten Weibern in Kopftüchern, aus einem gähnenden Tor ein Kolossalgemälde, worauf ein Greis mit langem weißem Bart zu sehen war, auf rosa wolken gebettet, in den Augen den Ausdruck unsäglicher Milde und die Rechte segnend ausgestreckt, während die Linke fürsorglich einen Globus umspannt hielt.

      Wenig befriedigt und von widerstreitenden Gefühlen gequält, zog sich der kaiserliche Leibarzt ins Zimmer zurück, nahm die Botschaft seiner Köchin, „der Wenzel warte unten“, wortlos entgegen, ergriff Zylinder, Handschuhe und Elfenbeinstock und verfügte sich knarrenden Fußes die kühle Steintreppe hinab in den Schlosshof, wo der Kutscher bereits mit dem Abbau des Droschkendaches beschäftigt war, um die hohe Gestalt seines Herrn ohne Anstoß im Inneren des Wagens verstauen zu können.

      Die Karosse war so ziemlich den größten Teil der steilen Straßen hinabgerasselt, als dem Pinguin plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss, der ihn veranlasste, so lange an die klapprigen Fensterscheiben zu klopfen, bis Karlitschek sich endlich bequemte, durch Steifmachen seiner isabellfarbigen Vorderstelzen der Fahrt ein jähes Ende zu bereiten, und Wenzel vom Bock sprang und mit gezogenem Hut an den Schlag trat.

      Wie aus dem Boden gewachsen umdrängte sofort eine Schar Schulbuben den Wagen und vollführte, als sie den Pinguin darin erblickte, seines Spitznamens eingedenk, eine Art lautlosen Polarvogeltanz, wobei sie sich mit gekrümmten Armen unbeholfene Flugbewegungen nachahmten und wie mit spitzen Schnäbeln nacheinander hackten.

      Der Herr kaiserliche Leibarzt würdigte die Spötter keinen Blickes und flüsterte dem Kutscher etwas zu, das diesen einen Augenblick lang buchstäblich erstarren ließ.

      „Exlenz, gnä’ Herr, wos, in die Totengasse wollen sich Exlenz fahren?“ stieß der Mann endlich halblaut hervor. „Zu die – zu die – zu die Menscher? – Und jetzen in der Früh schon?“

      „Aber die ‘böhmische Liesel’ wohnt sich doch gar nicht in der Totengassen“ – fuhr er erleichtert fort, als ihm der Pinguin sein Vorhaben genauer auseinandergesetzt hatte. „Die ‘bähmische Liesel’ wohnt sich doch in der ‘Neien Welt’. Gott sei Dank.“

      „In der – Welt? Unten?“ fragte der kaiserliche Leibarzt zurück und warf einen missgelaunten Blick aus dem Fenster auf das zu seinen Füßen liegende Prag.

      „In der ‘Neien Welt’“, beruhigte ihn der Kutscher, „in der Gassen, was sich um den Hirschgraben rundumadum ziecht.“ Dabei deutete er mit dem Daumen zum Firmament empor und beschrieb dann behende mit dem Arm eine Schlinge in der Luft, als wohne die alte Dame in beinahe unzugänglichen Gefilden – sozusagen im Astralreich, zwischen Himmel und Erde. —

      Einige Minuten später klomm Karlitschek wieder – mit dem gemessen langsamen Bewegungen eines schwindelfreien kaukasischen Gebirgsmaultieres – die abschüssige Spornergasse bergan. —

      Dem Herrn kaiserlichen Leibarzt war eingefallen, dass er vor kaum einer halben Stunde die „böhmische Liesel“ durch das Fernrohr in den Straßen Prags gesehen hatte und dass daher die Gelegenheit, den Schauspieler Zrcadlo, der bei ihr wohnte, unter vier Augen zu sprechen, selten günstig sei. Und so hatte er beschlossen, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen und lieber auf das Gabelfrühstück beim „Schnell“ zu verzichten.

      Die Gasse, genannt die „Neue Welt“, bestand, wie der Herr kaiserliche Leibarzt eine Weile später – die Droschke musste zurückbleiben, um peinliches Aufsehen zu vermeiden – Gelegenheit fand, sich zu überzeugen, aus etwa sieben getrennt voneinander stehenden Häuschen und dicht gegenüber einer halbkreisförmigen Mauer, deren oberer Rand mit einem fortlaufenden Fries aus mit Kreide zwar primitiv von Knabenhand gezeichneten, nichtsdestoweniger aber äußerst drastischen Anspielungen auf das Geschlechtsleben verziert war. Von ein paar Kindern abgesehen, die fröhlich kreischend in der knöcheltief mit weißem Kalkstaub bedeckten Gasse Kreisel drehten, war weit und breit kein menschliches Gesicht zu erblicken.

      Von dem Hirschgraben, dessen Hänge mit blühenden Bäumen und Sträuchern übersät waren, wehte ein duftgetränkter Hauch von Jasmin und Flieder herauf, und in der Ferne träumte das Lustschloss der Kaiserin Anna, von dem silberweißen Gischt der sprühenden Fontänen umgeben, mit seinem gebauchten, grünkupfernen Patinadach im Mittagslicht wie ein riesiger, glänzender Käfer.

      Dem kaiserlichen Leibarzt schlug mit einem Mal das Herz seltsam laut in der Brust. Die weiche erschlaffende Frühlingsluft, der betäubende Geruch der Blumen, die spielenden Kinder, das dunstig helleuchtende Bild der Stadt zu seinen Füßen und der ragende Dom mit den in Scharen über ihren Nestern kreischenden Dohlen, alles erweckte in ihm wieder das dumpfe vorwurfsvolle Gefühl von heute Morgen, er habe seine Seele um ein ganzes langes Leben betrogen.

      Er sah eine Weile zu, wie sie die kleinen, grau-roten, kegelförmigen Kreisel unter den Schlägen der Peitschen drehten und Staubwölkchen emporwirbelten; er konnte sich nicht entsinnen, jemals als Kind dieses lustige Spiel getrieben zu haben – jetzt kam es ihm vor, als hätte er ein langes Dasein voll Glück dadurch versäumt.

      Die offenen Flure der kleinen Häuser, in die er spähte, um die Wohnung des Schauspielers Zrcadlo zu erkunden, waren wie ausgestorben.

      In dem einen stand ein leerer Bretterverschlag mit Glasfenstern, hinter denen wahrscheinlich in Friedenszeiten mit blauen Mohnkörnern bestreute Semmeln verkauft worden waren oder – wie ein ausgetrocknetes hölzernes Fässchen verriet – saurer Gurkensaft gemäß der Landessitte: einen in diese Flüssigkeit hängenden Lederriemen gegen Entgelt von einem Heller zweimal durch den Mund ziehen zu dürfen.

      Vor einem andern Eingang hing ein schwarz-gelbes Blechschild mit einem zerkratzten Doppeladler darauf und den Fragmenten einer Inschrift, die besagte, es dürfe hier straflos Salz an Reflektanten abgegeben werden.

      Aber alles das machte den betrüblichen Eindruck, als sei es längst nicht mehr wahr.

      Auch ein Zettel mit großen, einst schwarzen Buchstaben: „Zde se mandluje“, was soviel heißen sollte wie: „Hier dürfen Dienstmädchen gegen Vorausbezahlung von zwölf Kreuzern eine Stunde lang Wäsche mangen“, war halb zerrissen und ließ deutlich ahnen, dass der Gründer dieses Unternehmens jegliches Vertrauen auf seine Erwerbsquelle eingebüßt haben musste.

      Allüberall hatte die erbarmungslose Faust der Kriegsfurie die Spuren ihrer zerstörenden Tätigkeit hinterlassen.

      Aufs Geratewohl betrat der kaiserliche Leibarzt die letzte der Hütten, aus deren Schornstein ein dünner, langer Wurm graublauen Rauchs sich zum wolkenlosen Maienhimmel emporschlängelte, öffnete nach längerem, unbeantwortetem Klopfen eine Tür und sah sich – unliebsam überrascht – der „böhmischen Liesel“ gegenüber, die, eine Holzschüssel mit Brotsuppe auf den Knien, ihn schon auf der Schwelle erkannte

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