Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке. Густав Майринк
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Читать онлайн книгу Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке - Густав Майринк страница 7
An den zerfetzten pompejanischroten Tapeten hing eine Tapete morscher Lorbeerkränze mit blassblauen, verwaschenen Seidenschärpen, darauf allerhand Huldigungen wie „Der großen Künstlerin“ usw., zu lesen waren, und daneben eine bändergeschmückte Mandoline.
Mit der selbstverständlichen Gelassenheit einer Dame von Welt blieb die „böhmische Liesel“ ruhig sitzen und streckte nur, geziert lächelnd, die Hand aus, die der Herr kaiserliche Leibarzt, blutrot vor Verlegenheit, zwar ergriff und drückte, aber zu küssen vermied.
Den Mangel an Galanterie liebenswürdig übersehend, eröffnete die „böhmische Liesel“ die Konversation mit ein paar einleitenden Worten über das schöne Wetter, wobei sie ungeniert ihre Suppe zu Ende schlürfte, und versicherte sodann Seine Exzellenz ihrer hohen Befriedigung, einen so lieben alten Freund bei sich begrüßen zu dürfen.
„Ein Feschak bist d’ und bleibst d’ halt doch, Pinguin“, änderte sie, unvermittelt ins Vertrauliche übergehend, die zeremonielle Tonart, ließ die hochdeutsche Ausdrucksweise fallen und bediente sich des Prager Jargons, „was man so sagt: ein sakramensky chlap[6].“ —
Erinnerungen schienen sie zu überfallen, und einen Moment lang schwieg sie, die Augen wie unter sehnsuchtsvollen Erinnerungen geschlossen; der Herr kaiserliche Leibarzt wartete gespannt, was sie wohl sagen werde.
Dann girrte sie plötzlich heiser mit gespitzten Lippen.
„Brussi, Brussi!“ – und breitete die Arme aus.
Von Grauen geschüttelt, prallte der Herr kaiserliche Leibarzt zurück und starrte sie entsetzt an.
Sie achtete nicht darauf, stürzte zu einem Wandbrett, riss ein Bild – ein altes, verblichener Daguerreotyp – , das dort inmitten vieler anderer stand, an sich und bedeckte es mit glühenden Küssen.
Dem Herrn kaiserlichen Leibarzt stockte fast der Atem: Er erkannte sein eigenes Konterfei, das er ihr vor wohl vierzig Jahren geschenkt hatte.
Dann stellte sie es behutsam, voll Zärtlichkeit wieder zurück, hob verschämt mit spitzen Fingern den zerlumpten Rock bis zum Knie und tanzte, den Kopf mit dem wirr zerzausten Haar wie in wollüstigen Träumen wiegend, eine gespenstische Gavotte[7].
Der Herr kaiserliche Leibarzt stand wie gelähmt; das Zimmer drehte sich vor seinen Augen; „Danse macabre“[8], sagte etwas in ihm, und die beiden Worte tauchten in kraus geschnörkelten Buchstaben als Unterschrift zu einem alten Kupferstich, den er einst bei einem Antiquar gesehen, wie eine Vision vor ihm auf.
Er konnte den Blick nicht von den skelettartigen dürren Beinen der Greisin wenden, die in schlottrigen, grünlich schimmernden schwarzen Strümpfen staken – er wollte im Übermaß des Grausens zur Tür fliehen, aber der Entschluss entfiel ihm, noch ehe er gefasst war. Die Vergangenheit verband sich mit der Gegenwart in ihm zu einem inneren und äußeren Bannbild schreckhafter Wirklichkeit, dem zu entrinnen er sich ohnmächtig fühlte; er wusste nicht mehr: War er selbst noch jung und hatte sich die, die da vor ihm tanzte, urplötzlich aus einem soeben noch schönen Mädchen in ein leichenhaftes Scheusal mit zahnlosem Mund und entzündeten, runzligen Lidern verwandelt – oder träumte er nur, und seine eigene Jugend und die ihrige hatten in Wahrheit nie existiert?
Diese platten Klumpen in den grauschwarzen, schimmligen Überresten von niedergetretenen Stiefeln, die da vor ihm im Takte sich drehten und hüpften – konnten sie wirklich dieselben zierlichen Füsschen mit den zarten Knöcheln sein, die ihn einst so verliebt gemacht und entzückt hatten?
„Sie kann sie jahrelang nicht ausgezogen haben, das Leder würde in Stücke zerfallen sein. Sie schläft in ihnen“, kam ein halber Gedanke flüsternd an seinem Bewusstsein vorbei, wuchtig verdrängt von einem andern: „Es ist furchtbar, der Mensch verwest in dem unsichtbaren Grabe der Zeit, noch während er lebt.“
„Weißt du noch, Thaddäus!“ flötete die „böhmische Liesel“ heiser und krächzte eine Melodie:
„Du, du, du – bist so kalt
und machst allen so heiß,
zauberst Flammen hervor aus dem Eis.“
Dann hielt sie, wie mit einem Ruck zu sich gekommen, inne, warf sich in einen Sessel, krümmte sich, überwältigt von jäh ausbrechenden, namenlosem Schmerz, zusammen und verbarg weinend ihr Gesicht in den Händen. – Der kaiserliche Leibarzt erwachte aus seiner Betäubung, raffte sich auf, gewann einen Augenblick Gewalt über sich und verlor sie gleich darauf wieder. – Er erinnerte sich mit einem Mal deutlich seiner unruhig durchschlummerten Nacht und dass er denselben armen, verwitterten Körper noch vor wenigen Stunden als blühendes junges Weib liebestrunken im Traum in den Armen gehalten hatte, der jetzt, mit Lumpen bedeckt und von Schluchzkrämpfen und Leid geschüttelt, vor ihm lag.
Er öffnete ein paarmal den Mund und schloss ihn wortlos wieder – wusste nicht, was er sagen sollte.
„Liesel“, brachte er endlich mühsam hervor, „Liesel, gehts dir so schlecht?“ – Er ließ seinen Blick durch die Stube schweifen und blieb mit den Augen an dem hölzernen Suppennapf hängen, hm ja. – „Liesel, kann ich dir irgendwie helfen?“ Früher hat sie aus silbernen Tellern gegessen – schaudernd sah er zu der schmutzstarrenden Lagerstätte hinüber – hm, und – und auf Daunen geschlafen. —
Der Alte schüttelte heftig den Kopf, ohne das Gesicht zu heben.
Der Herr kaiserliche Leibarzt hörte, wie sie ihr Wimmern hinter den Händen verbiss.
Seine Photographie auf dem Wandbrett schaute ihm geradeaus ins Gesicht – der Widerschein eines blinden Spiegels am Fenster warf einen schrägen Lichtstrahl auf die ganze Reihe – lauter schlanke, junge Kavaliere, die er alle gekannt hatte, manche jetzt noch kannte als steif und weiß gewordene Fürsten und Barone – er selbst mit lachenden, lustigen Augen, in goldbetresstem Rock, den Dreispitz unter den Armen.
Schon vorhin, als er das Bild als das seinige erkannt hatte, war die Absicht in ihm aufgestiegen, es heimlich zu entfernen; unwillkürlich machte er einen Schritte darauf zu – schämte sich aber sofort seines Gedankens und blieb stehen.
Schultern und Rücken der Alten bebten und zuckten noch immer vor verhaltenem Weinen; er sah auf sie nieder, und ein tiefes, heißes Mitleid ergriff ihn.
Er vergaß seinen Ekel vor ihrem schmutzigen Haar und legte ihr die Hand vorsichtig auf den Kopf, als getraue er sich nicht recht – streichelte sie sogar schüchtern.
Er schien sie sichtlich zu beruhigen, und sie wurde allmählich still wie ein Kind.
„Liesel“ – fing er nach einer Weile wieder, ganz leise, an – „Liesel, schau, mach dir nichts draus – na ja, ich mein, wenn’s dir schlecht geht. – Weißt d’“ – er suchte nach Worten – „na ja, weißt d’, es is – es is halt Krieg. – Und – und Hunger ham wir ja alle – jetzt im Krieg“ – er schluckte ein paarmal verlegen, denn er fühlte, dass er log; er hatte doch noch niemals Hunger gehabt – wusste gar nicht, was das war; sogar frischgebackene Salzstangel aus weißem Mehl wurden ihm jeden Tag beim „Schnell“ heimlich unter die Serviette gesteckt. – „No – und jetzt, wo ich weiß, dass dir’s schlecht geht, brauchst d’ dich ieberhaupt
6
sakramensky chlap
7
Gavotte – гавот, старинный французский танец
8
Danse macabre