Schärengrab. Carsten Schütte
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Wegen des geplanten Ausflugs standen sie nicht unter Druck. Die Fløibahn fuhr in den Sommermonaten ganztägig von 7:30 bis 23 Uhr, Reservierungen waren nicht erforderlich.
Sie hatten sich über ihre Bord-App in die Liste des Neun-Uhr-Shuttles eingetragen und waren endlich als Team komplett, als Nina mit einem Croissant und einem coffee to go dazustieß. Bei strahlendem Sonnenschein konnten sie schon vom Anleger aus den Gipfel des Fløybergs sehen. Sie wurden in den Shuttlebus sechs eingewiesen, der sie nach kurzer Fahrt im Zentrum Bergens direkt an der Bahnstation in Sichtweite des Fischmarktes absetzte.
So früh gehörten sie zu den wenigen, die den Panoramablick auf die Stadt, die reizvolle Umgebung und die „Norwave“ bei milden Temperaturen erleben wollten. Gut gelaunt erreichte das Team die Talstation der Bahn. Die Schlange vor dem alten, weißen Gebäude, das 1918 erbaut worden war, blieb überschaubar. Ihre Tickets hatten sie bereits an Bord gebucht. Das war ein toller Service des Schiffs und verhinderte Wartezeiten. Daher dauerte es auch nicht lange, bis sie die Gondel erreicht hatten. Trotzdem wurde Thorsten Büthe beim Einsteigen mehrfach unsanft angerempelt. Er schüttelte den Kopf. Manche Menschen benahmen sich so, als ob sie allein auf der Welt wären. Samt Kollegen stand er nun in einer Gondel, die sie mit weiteren Ausflüglern in nur sechs Minuten über eine Streckenlänge von 850 Metern und 300 Höhenmetern zur Bergstation bringen würde.
Der Fløyen liegt nur 320 Meter oberhalb des Meeresspiegels, wobei die Aussicht auf die Stadt, die Hafeneinfahrt, die Fjorde und die umliegenden Berge tatsächlich faszinierend ist. Thorsten hatte seinen Fotorucksack umgeschnallt. Hier war neben seiner riesigen Nikon auch seine Fujiausrüstung untergebracht, um für alle interessanten Motive gewappnet zu sein. Er ließ die Fujikamera, die er mit einem extremen Weitwinkelzoom bestückt hatte, glühen und nutzte das klare Morgenlicht.
Das Team war sportlich gekleidet und hatte sich als Ausgleich zu den üppigen kulinarischen Verführungen an Bord vorgenommen, die Proportionen des Körpers durch gemäßigte Bewegung nicht völlig entgleiten zu lassen.
Sie starteten ihre Wanderung auf dem etwa drei Kilometer langen Rundweg, der touristengerecht an einem Restaurant, Café und mehreren Souvenirläden samt Spielplätzen vorbeiführte.
Thorsten Büthe steckte den Objektivschutzdeckel in seine Jackentasche und bemerkte dann, dass sich darin ein Stück Papier befand, das er dort nicht hineingesteckt hatte. Es handelte sich um ein mehrfach geknicktes DIN-A4-Blatt mit einer Zeichnung. Sie zeigte eine große Trollfigur über einem darunter liegenden Strichmännchen, um dessen gelbe Haare rote Tropfen gemalt waren. Rundherum waren Bäume und Felsen skizziert.
„Wollt ihr mich zu einer Schnitzeljagd animieren?“, fragte Thorsten sein Team und hielt das Papierstück hoch.
Er blickte in irritierte Gesichter.
„Jemand hat mir diesen Zettel in die Jackentasche gesteckt. War das wer von euch?“, hakte der Teamleiter mit ernstem Unterton nach.
Er faltete den DIN-A4-Zettel auseinander und zeigte die Skizze in die Runde.
Kristin prustete: „Nicht dein Ernst! Du glaubst jetzt nicht an eine Tatortskizze oder willst uns hier dienstlich beschäftigen? Wir sind doch im Urlaub, oder?“
Thomas Schulte konnte es nicht lassen: „Huh, eine geheimnisvolle Karte. Was bekommt derjenige, der den Ort als Erster findet? Ich finde Schnitzeljagden cool.“
Thorsten blieb ernst. „Ich denke immer noch an den Mord in Oslo. Was ist, wenn es doch kein Zufall war? Was ist, wenn die Frau mit dem Rollator doch mit an Bord gekommen ist? Ich kann nicht sagen, wo mir jemand diesen Zettel zugesteckt hat. Vielleicht schon an Bord ...“
Nina griff im ironischen Analysemodus ein: „Wenn hier ein Mord skizziert worden ist, müsste die Phantom-Omi vor uns allen eine der ersten Fløibahnen genutzt haben und das samt Rollator. Dann hat sie hier oben irgendwo einen Mord begangen und muss in Windeseile diese Skizze gezeichnet haben, um sie dir auf dem Weg vom Schiff bis auf die Aussichtsplattform zuzustecken. Das ist mal etwas Besonderes für das Guinnessbuch.“
Die Psychologin, Carlotta, versuchte zu beschwichtigen: „Was haltet ihr davon, wenn wir den Rundweg wie geplant gehen, im Restaurant einkehren und ein paar Souvenirs kaufen? Sollten wir dann auf dem Weg eine Leiche finden, können wir wenigstens gestärkt direkt in eine Fallanalyse einsteigen. Was meint ihr dazu?“
Thorsten gab sich geschlagen, behielt die Skizze aber in der Hand. Die Urlauber orientierten sich an einem Wegweiser, der den Panoramaweg aufzeigte, aber auch einen Hinweis auf „Trollskogen“, den Wald der Trolle, der in einem Pfad nur leicht hinter einem großen Spielplatz vom Rundweg abzweigte. Dieser Umstand allein ließ Thorsten nicht stutzen, aber über dem Hinweisschild zum Trollwald hing ein roter Stringtanga, der wie eine Fahne im Wind wehte.
Maik Holzner hatte sich bislang zurückgehalten, nun kommentierte er dieses skurrile Bild aber: „Uuih, ein neuer Hinweis. Was das wohl für Trolle sind, die mit roten Stringtangas werben?“
Thorsten war genervt. „Okay, Leute, bleibt ihr auf dem Hauptweg, ich schaue mir den Trollwald mal näher an und komme euch dann wieder entgegen.“
„Na, Chef, ob du das alles in der Zeit schaffst? Wer weiß, was dich dort erwartet. Aber keine Angst, wir petzen nicht“, frotzelte Thomas Schulte mit einem Augenzwinkern.
Thorsten schoss ein Foto von dem Wegweiser samt Tanga und ging zielstrebig in Richtung Trollskogen. Die Psychologin hatte Mitleid und schloss sich ihm an.
Das Quartett der anderen Profiler flötete: „Bis nachher, viel Erfolg!“, und folgte dem Hauptweg.
Carlotta und Thorsten passierten den Spielplatz, auf dem meist junge Eltern und Großeltern mit ihren Kindern und Enkeln beschäftigt waren. Zum Trollwald führte ein felsiger Weg durch einen Birkenwald. Der hügelige Boden war mit Moos bedeckt. Es roch muffig, und der Resttau zog zu einem nebligen Dunst auf. Ein echter Zauberwald. An einer Birke war ein Trollkopf befestigt, über dem ein Pfeil weiter in den Wald zeigte. An diesem Wegweiser hing völlig deplatziert ein roter BH. Während Thorsten wieder zur Kamera griff und mehrfach auslöste, wurde es der Psychologin doch mulmig, denn hier waren sie allein. In der Ferne nahmen sie dunkle Schatten auf den schmalen Wegen wahr. Carlotta hoffte, es waren andere Touristen und keine Trolle, die sie langsam einkreisten. Hier hätte man sofort die Szene eines Harry Potter Films drehen können, ohne etwas zu verändern. Einzig der BH störte dieses Bild.
Thorsten klappte die Zeichnung auseinander. Sie schauten auf einen Baumstamm, auf den der Oberkörper eines weiblichen Trolls mit Brustansätzen gezeichnet war. Sie hörten von Ferne das lachende Schreien eines Kindes, das wohl gejagt wurde. Hoffentlich nur zum Spaß von seinem Vater oder Opa.
Durch den Dunst entdeckten sie abseits des Weges in den Felsen schemenhaft einen etwa drei Meter hohen Stamm, der nach oben nicht dünner, sondern dicker wurde. Nur allmählich konnte man den schmalen Bereich als Hüfte, den darüber als Brust und darauf den überdimensionierten Kopf mit den riesigen Ohren erkennen. Das war der Troll von der Skizze.
Sie gingen vorsichtig weiter. Der Dunst löste sich mehr und mehr auf, je näher sie der Gestalt kamen. Erst jetzt konnten die Psychologin und der Profiler erahnen, dass sich etwas Helles an den Stamm anlehnte. Beim Näherkommen erkannten sie den nackten Leichnam einer jungen Frau mit langen, blondlockigen Haaren. Der gesamte blasse Körper war aufgrund von Kopf- und Halswunden blutüberströmt, wobei sich eine große Blutlache am Boden zwischen den weit gespreizten Beinen gebildet hatte. Thorsten verharrte und stoppte Carlotta, die näher an den toten Körper herantreten wollte.
„Bleib