Eilandfluch. Marie Kastner
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Hatte vielleicht der Wind die Sachen ins Wasser geweht? Sie sahen sich aufmerksam um. Nichts. Nach kurzer Suche war klar, dass hier ein dreister Dieb am Werk gewesen sein musste. Zum Glück bewahrte Thorsten Geld, Kreditkarten und Autoschlüssel traditionell in einer wasserfesten Box auf, die ihm an einer neongrünen Nylonschnur am Hals baumelte. Ansonsten wäre die Sache böse ausgegangen und wahrscheinlich auch der Mietwagen gestohlen worden.
»Verdammte italienische Langfinger! Mein Lacoste-Shirt konnten sie wohl gut gebrauchen. Jetzt dürfen wir nachher halbnackt ins Hotel zurückfahren«, fluchte der blonde Frankfurter.
Mona nickte betroffen. Schade um die schöne Tunika.
»Das stimmt leider, und diese Art von Pech können wir nicht einmal dem Inselfluch zuschreiben. Wenigstens habe ich meine nagelneue Gucci-Sonnenbrille vorhin in weiser Voraussicht im Handschuhfach verstaut.«
Das Paar beschloss, wenigstens das Beste aus der Situation zu machen. Von einer erhöhten Plattform aus, auf der ein größeres Verwaltungsgebäude stand, blickten sie zu La Gaiola hinüber. Von dieser Warte aus konnte man die Bebauung gut erkennen.
»Wer hat denn die herrschaftliche Villa auf der Insel erbaut, und wie alt mag sie sein?«, wollte Mona wissen. Die halb verrotteten Gemäuer hatten sie offenbar in Windeseile in ihren Bann gezogen.
»Ich habe selbstverständlich ein paar Recherchen angestellt, und das nicht nur über diesen vorgeblichen Inselfluch. Obwohl
… irgendwie scheint alles, was auch nur entfernt mit La Gaiola zu tun hat, damit ebenfalls zusammenzuhängen. Ich schildere dir gerne, was ich im Internet über die ersten Besitzer der Insel gefunden habe. Danach kannst du dir ein eigenes Bild machen.
Allerdings wirft die Antwort auf jegliche Frage gleich ein paar neue auf … also ich werde aus der ganzen Geschichte jedenfalls nicht schlau. Wieso diese wunderschön gelegene Villa dermaßen oft den Besitzer gewechselt hat – und das in einem Land des starken Familienzusammenhalts, wo man sein Eigentum traditionell seinen Kindern vererbt – ist mir ein Rätsel.«
»Schluss mit der langatmigen Vorrede, nun lass schon hören!«, quengelte Mona voller Ungeduld.
1874
Klein aber mein
»In etwa um Christi Geburt soll hier ein kleines Heiligtum der Göttin Venus gestanden haben. In späteren Zeiten hat man die Insel als Verteidigungsstützpunkt genutzt, aber etwas Genaueres konnte ich über die graue Vorzeit nicht herausfinden. Im siebzehnten Jahrhundert müssen auf diesen wenigen Quadratmetern verschiedene Fabrikationsstätten existiert haben, und zwar bevor La Gaiola erneut militärischen Zwecken diente.
Als erster Eigentümer der neueren Geschichte ist ein Archäologe namens Guglielmo Bechi dokumentiert, der die Insel 1820 zusammen mit einem Teil der gegenüber liegenden Landzunge kaufte. Es wird vermutet, er habe damit verhindern wollen, dass sich wieder Fabriken oder Militär dort ansiedeln, weil dadurch seine archäologischen Ausgrabungen gestört worden wären.
1874 veräußerte er die Liegenschaften an den Besitzer eines großen Fischereiunternehmens, der kurz nach dem Erwerb auch diese Villa erbaut haben soll. Jener Luigi di Negri muss innerhalb weniger Jahre mit seiner Firma eine gründliche Pleite hingelegt haben, und zwar noch während er auf La Gaiola lebte.
Er verkaufte notgedrungen an einen anderen Unternehmer, der in den Felshöhlen am Fuße der Insel und drüben am Festland angeblich pozzolana, das ist antike Vulkanasche von einem frühen Ausbruch des Vesuv, abbaute. Man kann dieses Material für die Herstellung einer ganz speziellen Betonsorte verwenden. Aber auch dieser Eigentümer kann dort nicht auf Dauer glücklich geworden sein.
Insel, Villa sowie das Grundstück am Kap gingen anschließend komplett in den Besitz der Familie des ehrenwerten Senators Paratore über. Sieh nur mal dort hinüber, Mona. Das ganze Areal, zu dem heute der Parco archeologico und das große Ambrosio-Anwesen gehören, also die riesige Villa dort am Steilhang, zählten damals zur Liegenschaft. Heutzutage wären allein schon die Grundstücke viele Millionen Euro wert.«
»Ein Traum, solche Anwesen zu besitzen«, meinte Mona. Sie beschirmte ihre Augen gegen die Sonne und sah in die angegebene Richtung.
»Stimmt haargenau! Und dennoch wechselte der Besitzer nach erstaunlich kurzer Zeit erneut. Paratore verkaufte alles an den Schriftsteller Norman Douglas, der ein großes Faible für Süditalien hatte. Der taufte die Inselvilla auf den Namen Maya. Jedoch verzog dieser ursprünglich aus Vorarlberg stammende Buchautor wenig später auf eine andere Insel, aufs Neue in eine opulente Villa – auf Capri.
Warum mag er das getan haben, frage ich dich? Warum hat er ein Paradies gegen ein anderes eingetauscht? Irgendetwas muss ihm auf La Gaiola wohl gründlich missfallen haben. Das Mysteriöse daran ist, dass er im Jahre 1911 ein Buch mit dem Namen Siren Land geschrieben hat.
Oh, ich sehe Fragezeichen in deinen Augen. Dann will ich mal etwas weiter ausholen, meine Liebe.
Die Sirenen sind laut der griechischen Mythologie weibliche Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang vorbeifahrende Schiffer anlocken, um diese zu töten. Man nennt sie deswegen auch die Musen der Todesklage. Der Held Odysseus soll das einzige männliche Individuum gewesen sein, das den verführerischen Gesängen jemals widerstehen konnte. Er schipperte unbeschadet an der Sireneninsel vorbei.
Und jetzt kommt’s: Die drei Sirenen begingen, der Sage nach, wegen ihres kläglichen Scheiterns Selbstmord, indem sie sich ins Meer stürzten. Eine von ihnen, Parthenope genannt, soll tot im Golf von Neapel angespült worden sein. Hier in der Nähe befindet sich angeblich ihr Grab, und hier wurde deshalb noch lange ihr Kult begangen. Ein merkwürdiger Zufall, nicht wahr?«
»Ich sehe den Zusammenhang noch nicht«, bemerkte seine Freundin kopfschüttelnd. Sie schien schon wieder das Interesse zu verlieren. Zu viel Nachhilfeunterricht langweilte sie offenkundig zu Tode.
»Nun denk doch mal scharf nach! Verführerinnen, die Männer eiskalt in den Tod locken … das könnte ein zarter Hinweis auf diese Zwillingsinsel sein, die der Schriftsteller so schnell wieder verlassen hat. Es wäre durchaus möglich, dass er Zeuge mysteriöser Vorfälle geworden ist und es ihm zu peinlich war, darüber zu berichten. Schreiberlinge pflegen prägende Erlebnisse später in ihren Büchern zu verarbeiten, wenn auch meistens auf eine eher metaphorische Weise, verstehst du?«
»Nein«, gab Mona offen zu. Literatur war nicht ihr Ding.
»Wenn man ins Kalkül zieht, was in späteren Jahren auf der Insel alles geschehen sein soll, ergäbe das durchaus Sinn. Aber Schluss jetzt … mit der langen Reihe von Unglücken will ich dir heute nicht mehr auf die Nerven gehen. Genießen wir lieber den schönen Tag, wir können so selten gemeinsame Freizeit genießen«, schloss Thorsten seine Ausführungen.
»Es mag ja sein, dass diese Insel eine bewegte Geschichte hat. Mir gefällt sie trotzdem. Sie übt einen besonderen Reiz auf mich aus«, beharrte das Model.
»Du hättest also keine Angst, hier zu leben?«, fragte Thorsten elektrisiert. Ihm war soeben eine blendende Idee gekommen.
Mona