Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner
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Читать онлайн книгу Der Schreckenswald des Hoia Baciu - Marie Kastner страница 10
»Geht weg, lasst mich gefälligst in Frieden«, wimmerte Anna, schlug mit fahrigen Bewegungen auf die eigenen Gliedmaßen ein und scharrte sich blutige Striemen in beide Wangen. Nach einer gefühlten Ewigkeit verirrte sich ein silbriger Mondstrahl auf ihre Hände. Voller Entsetzen erkannte sie, dass ihre gesamte Haut von zahllosen Bläschen übersät war. An den Stellen, wo sie diese bereits aufgekratzt hatte, lief Flüssigkeit heraus.
»Wo bist du, wenn man in Not ist und dich braucht? Warum hast du mein kleines Mädchen nicht beschützt?«, krächzte Anna mit letzter Kraft. Sie richtete ihren glasigen Blick gen Himmel und verlor das Bewusstsein.
*
Man fand Anna Ionescu am nächsten Morgen gegen 9 Uhr. Sie kauerte immer noch ängstlich auf der kleinen Lichtung, obwohl bereits die Sonne ihre wärmenden Strahlen in den Wald schickte. Dass eine Polizistin sie vorsichtig ansprach, schien sie nicht einmal zu bemerken. Sie saß nur statisch da, stierte mit blutunterlaufenen Augen geradeaus und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück.
Eugen Ionescu war von einem Verbrechen ausgegangen, hatte am Vorabend gegen 22 Uhr die Polizei alarmiert. Beim Betreten des Hauses waren ihm nämlich schwarze Rauchwolken entgegen gewabert, die aus der Küche kamen. Zwei Herdplatten waren auf höchster Stufe eingeschaltet gewesen. In einem der beiden Töpfe verkochte eine Portion Spaghetti zu einer breiigen Masse, im anderen, kleineren befand sich ein undefinierbares schwarzes Etwas. Wahrscheinlich verkohlte Nudelsoße.
Eugen hatte sich hustend ein Tuch vor den Mund gepresst, die Drehknöpfe auf null gestellt, die Töpfe vom Herd gezogen, durchgelüftet und im ganzen Haus nach Frau und Tochter gesucht. Mit einer Rauchgasvergiftung durfte man schließlich nicht spaßen. Ganz zum Schluss hatte er im Garten nachgesehen und entsetzt festgestellt, dass das Türchen zur Wiese sperrangelweit offen stand.
In diesem Moment war dem Familienvater schlagartig bewusst geworden, dass an der Sache irgendetwas faul sein musste. Seine Frau konnte als ordentlich, fast schon pedantisch gelten. Niemals hätte sie die Gartenharke einfach mitten im Gemüsebeet liegen lassen, geschweige denn, dass Anna jemals das Absperren oder das Abdrehen der Herdplatten vergessen hätte.
Nein … irgendjemand musste sie bei der Gartenarbeit hinterrücks überrascht haben, vielleicht war sie sogar mitsamt der Tochter verschleppt worden. So hatte der besorgte Eugen keine Zeit mehr verloren, war auf dem schnellsten Wege zur Polizeistation im Nachbarort gefahren und hatte seine Familie als vermisst gemeldet. Schweren Herzens hatte er sich bis zum Morgengrauen gedulden müssen, denn für den Rest der Nacht hätten die Polizisten keine Möglichkeit für eine Suchaktion gesehen.
Und nun saß seine schöne, kluge Anna reglos auf einer Waldlichtung im Sonnenschein, war trotz aller Bemühungen nicht ansprechbar. Das Haar stand in schlammverkrusteten Strähnen wirr vom Kopf ab, die Haut starrte vor gelblichen Pusteln und war blutverschmiert. Die attraktive Frau war kaum wiederzuerkennen, schien die Sprachfähigkeit verloren zu haben. Von Marta fehlte bislang jede Spur.
Man lieferte Anna Ionescu in die Psychiatrie der Nervenheilanstalt Cluj-Napoca ein, wo sie zwei Monate lang stationär behandelt wurde. Die Entlassung erfolgte unter Vorbehalt, denn die junge Frau behauptete immer noch steif und fest, der Wald sei böse und habe ihre Tochter geholt.
Ihre behandelnden Psychiater waren sich indes unsicher, ob Anna das tatsächlich glaubte und somit an Wahnvorstellungen litt. Oder ob ihre Psyche womöglich eine furchtbare Bluttat aus dem bewussten Erleben ausblendete, in Wirklichkeit sie selbst für das Verschwinden ihrer Tochter verantwortlich sein könnte. So etwas kam leider immer wieder vor.
»Vielleicht hat Ihre Frau dem Mädchen eine schallende Ohrfeige verpasst … dieses fiel unglücklich, zum Beispiel mit dem Kopf gegen eine Tischkante oder auf einen Stein, und kam dabei zu Tode. Das wiederum hätte der Mutter einen gewaltigen Schock versetzt, erst recht, wenn sie das Kind abgöttisch geliebt hat. Wenn sie im geistig verwirrten Zustand ihr totes Kind im Wald verscharrt hätte, könnte sie sich hinterher tatsächlich nicht mehr daran erinnern«, hatte der Professor schulterzuckend behauptet. Eugen wäre ihm für diese ungeheuerliche Theorie am liebsten an die Gurgel gesprungen.
Anna musste sich nach ihrer Entlassung monatelang in polizeilichen Befragungen rechtfertigen, bis das Ermittlungsverfahren gegen sie mangels neuer Erkenntnisse vorläufig eingestellt wurde. Im Wald fanden sich keinerlei Spuren, die darauf hingewiesen hätten, dass dort in jüngerer Zeit jemand gegraben hätte. Das Kind – oder gegebenenfalls dessen Leichnam – war und blieb spurlos verschwunden.
Restzweifel blieben dennoch bestehen; Freunde und Nachbarn aus dem Dorf mieden Anna Ionescu, die sich von ihrem furchtbaren Erlebnis nie mehr vollständig erholte. Die körperlichen Wunden heilten zwar vollständig ab, die seelischen jedoch nicht. Sie konnte seit jenem schicksalsschweren Tag im Frühling 1975 als menschenscheu, verschroben und depressiv gelten.
»Meine Tochter ist im Teufelswald gefangen, wartet dort auf uns … wir müssen sie endlich befreien. Sie lebt noch!«, insistierte Anna stereotyp. Niemand nahm das für bare Münze, obwohl oder gerade weil sich etliche Legenden um diesen Ort spannen. Viele gingen davon aus, dass sie mit ihren Schauergeschichten lediglich von ihrer eigenen Gräueltat ablenken wollte. Alle paar Tage irrte sie kreuz und quer durch das Waldstück und kam kreidebleich zurück.
Nahezu der Einzige, der weiterhin felsenfest an Annas Unschuld glaubte, war ihr liebender Ehemann. Er war wild entschlossen, den mutmaßlichen Mädchenhändler, der seine Tochter mitgenommen und seine Frau als seelisches Wrack zurückgelassen hatte, eines Tages auf bestialische Weise zur Verantwortung zu ziehen.
Die Zigeunerclans der Umgebung suchten die Schuld für Martas geheimnisvolles Verschwinden eher in den finsteren Mysterien eines heimtückischen Waldes, über welchen man sich schon an den Lagerfeuern ihrer Vorfahren so allerlei Haarsträubendes erzählt hatte.
*
Kreis Cluj, 29. April 1980
Es regnete in Strömen. Ein böiger Wind trieb faserige Wolkenfetzen in rasender Geschwindigkeit über den grauen Himmel. Die Luft war für die Jahreszeit zu kühl, roch nach feuchter Erde und den Abgasen der nahen Stadt. Das nordostrumänische ClujNapoca wuchs unaufhörlich, Industrie siedelte sich an und die Fahrzeugdichte nahm zu. Wann immer eine undurchdringliche Wolkenschicht über der Landschaft hing, drückte diese den braungrauen Rauch von stinkenden Fabrikschloten und Autoauspuffen nach unten.
Auf einer kreisrunden Waldlichtung nahe der Ortschaft Baciu stand verdutzt ein kleines, etwa fünfjähriges Mädchen im Sommerkleid, das fröstelnd einen knallroten Ball mit weißen Punkten umklammert hielt.
›Wie bin ich nur hierhergekommen? Gerade schien doch noch die Sonne und ich habe am Waldrand ein paar Himbeeren gepflückt … ich muss sogleich nach Hause, sonst wird es dunkel. Mama macht sich bestimmt schon Sorgen‹, dachte das Kind.
Die Kleine drehte sich mehrmals um die eigene Achse, konnte jedoch den Waldrand nirgends entdecken. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war unschlüssig, in welche Richtung sie gehen sollte. Schließlich fasste sie sich ein Herz und tapste einfach los.
Nach wenigen Schritten hatte sie den Rand der Lichtung erreicht. Mit einem schmatzenden Geräusch versank ihr rechter Fuß mitsamt der leichten Sandale bis zum Knöchel im morastigen Boden. Erschrocken zog sie ihn heraus, hüpfte instinktiv einen Schritt zurück.