Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner

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Der Schreckenswald des Hoia Baciu - Marie Kastner

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Seiten, die Stelle trockenen Fußes zu verlassen, erzielte aber überall dasselbe Ergebnis. Schließlich zog sie Sandalen und Söckchen aus, nahm beides in die freie Hand und quälte sich dort weiter über den Waldboden, wo ihr der zähflüssige Dreck am seichtesten schien. Nach etwa einhundert Metern erreichte sie festeren Grund. Hier war der Boden von Fichtennadeln und Blaubeersträuchern bedeckt. Das Mädchen blieb stehen, sah sich ängstlich um. Es dämmerte.

      »Mama, kannst du mich bitte abholen kommen? Ich fürchte mich«, rief sie mit ihrer silberhellen Stimme. Natürlich hörte sie niemand. Der Ort, an dem sie sich gerade befand, erinnerte sie allzu stark an schreckliche Szenen aus einigen Märchen, die sie eigentlich sehr liebte. Jetzt allerdings wäre sie gerne zu Hause in der warmen Stube gewesen und hätte von einem düsteren Wald nichts hören oder sehen müssen. Immer wieder sah sie beunruhigt über ihre linke Schulter zurück.

      Während sie weinend weiterging, verwandelte sich der gleichmäßige Regenguss in einen Wolkenbruch. Die Tropfen verbanden sich miteinander, prasselten wie silbrige Bindfäden vom Himmel herab. Nach wenigen Schritten blieb das Kind irritiert stehen. Etwas war völlig anders als sonst … genau, man hörte das Rauschen des Regens gar nicht! Normalerweise klatschten Tropfen auf Blätter und Äste, zerschellten anschließend auf dem Boden. Plitsch – platsch … Oft hatte sie diesen gleichmäßigen Geräuschen gelauscht und es bedauert, wenn sie bei schlechtem Wetter nicht draußen spielen durfte.

      Mittlerweile war es stockdunkel geworden. Das Sommerkleid schlotterte ihr klitschnass um die Beine, der Regen schien also echt zu sein. Doch es war trotzdem still hier, totenstill. Da kamen ihr plötzlich die warnenden Worte ihrer Mutter wieder in den Sinn.

      ›Der Wald ist verhext, Marta. Geh niemals dort hinein!‹

      Und nun war sie wegen ihrem Appetit auf Himbeeren doch irgendwie in den Wald gelangt. In einen finsteren Wald, in dem es sogar verhexten Regen gab. Hätte sie ihren Fehler doch rückgängig machen können!

      *

      Den Rest der Nacht verbrachte Marta zusammengekauert in einer kleinen Bodenmulde, unter dem schützenden Blätterdach einer Buche. Nachdem sie ein paarmal hingefallen war, hatte sie verstanden, dass weiteres Herumirren in der totalen Dunkelheit keinen Sinn machte. Frierend schlang sie ihre dünnen Ärmchen um den kleinen Körper. Das dünne, total durchnässte Sommerkleid wärmte ihren Körper überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ihre Füße fühlten sich wie taube Eisklumpen an.

      Das Mädchen wagte kaum die Augen zu schließen, obwohl es todmüde war. Es hatte in der Ferne etwas wie Wolfsgeheul vernommen, fürchtete sich sehr. In Martas heißgeliebten Märchen kamen schließlich immer wieder böse Wölfe vor, die Arges im Schilde führten. Jedes Geräusch ließ sie zusammenfahren, vor Angst wimmern. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Warum wurde es immer noch nicht hell?

      Oh je … sie glaubte den Grund zu kennen, erinnerte sich plötzlich an jedes einzelne Wort einer überlieferten Geschichte, die ihr Mama erst vor einigen Tagen zum x-ten Mal beim Zubettgehen wieder erzählt hatte. Wie ging die noch gleich?

      »Einst war die Sonne als junges Fräulein auf die Erde herabgestiegen. Sie blieb aber nicht lange hier, denn ein böser Drache erfasste sie und schloss sie in seiner Burg ein. Die ganze Welt verfiel in Dunkelheit. Die Menschen waren traurig und die Kinder vergaßen das Spielen. Ein tapferer junger Mann beobachtete, was ohne Sonnenschein auf der Erde los war. Er beschloss, den Drachen zu bekämpfen und das Mädchen zu befreien. Das tat er dann auch. Er schaffte es, den bösen Drachen zu bezwingen und die Sonne wieder in Freiheit zu setzen«, murmelte Marta verstört vor sich hin.

      War der gefräßige Drache zurückgekehrt, hatte er erneut die Sonne eingesperrt? Dann würde es nie wieder hell werden – und sie wäre verloren.

      »Mami, bitte komm mich doch holen! Ich fürchte mich, halte es nicht mehr aus«, wisperte sie und barg ihren Kopf zwischen den Knien. Sie fror inzwischen dermaßen, dass ihre Zähne aufeinander klapperten.

      Als Marta den Kopf wieder hob, um sich mit dem Unterarm das tränennasse Gesicht zu trocknen, stutzte sie. Der Drache konnte offenbar die Sonne doch nicht gefressen haben! Ganz zaghaft stahlen sich die ersten Strahlen der Morgendämmerung zwischen den Bäumen hindurch. Lichtreflexe tanzten auf ihrer geröteten Stupsnase, streichelten die Haut mit noch kaum spürbarer Wärme.

      Wenige Minuten später wollte sie sich erheben, weil sich allmählich die Silhouetten von Bäumen, Gräben und Büschen aus der Dunkelheit schälten, immer deutlicher sichtbar wurden. Sie musste weitergehen, endlich einen Ausgang aus dem verhexten Waldstück finden. Aber ihre Glieder waren so steif und klamm, dass ihr das Aufstehen erst nach mehreren Anläufen gelang.

      Wieder stolperte das kleine Mädchen ziellos durch jenen kühlfeuchten Wald, welcher so feindselig wirkte. Da plötzlich – die goldene Sonne brach vollends durch den milchig weißen Morgennebel, ließ die Tautropfen auf den Gräsern glitzern und funkeln. Zahllose Spinnennetze wirkten wie kostbare Spitze, in die jemand Diamanten gewoben hatte.

      Marta schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die grelle Helligkeit ab, schaute so weit wie möglich in die Ferne. Zu ihrer Linken standen die Bäume in größerem Abstand auseinander, der Wald wirkte dort licht und freundlich. Sie beschleunigte ihre Schritte, schlug diese Richtung ein – und stand nur Minuten später am Waldrand, blickte über eine saftig grüne Hügelwiese. Sie kam ihr bekannt vor. Nun weinte sie vor Erleichterung.

      Die Kleine fand bald einen Feldweg, dem sie folgen konnte. So jung sie auch war, wusste sie doch, dass jeglicher Weg früher oder später bei einem Haus oder Dorf endete. Bevor es jedoch so weit war, sah sie eine fremde, schwarzhaarige Frau am Wegrand kauern. Sie schien Kräuter zu pflücken.

      »Hallo, bitte hilf mir! Du musst meine Mama suchen gehen«, rief Marta ihr schon von weitem zu. Dann begann sie zu laufen, so schnell es ihre zerschundenen Füße zuließen. Die Frau drehte sich erstaunt um. Um diese frühe Tageszeit hatte sie wohl nicht damit gerechnet, auf einen Spaziergänger zu treffen – schon gar nicht auf einen dermaßen jungen, der mutterseelenalleine unterwegs war.

      Die rassige Kräuterfrau mochte vielleicht dreißig Jahre alt sein. Sie war barfuß unterwegs, trug einen knöchellangen Stufenrock, eine großmaschige grüne Strickjacke und darunter eine mehrfarbige Bluse. Das kräftige, fast hüftlange Haar hatte sie mit einem bunten Tuch zurückgebunden. Kaum hatte sie Marta aus der Nähe gesehen, fuhr sie zusammen. Sie ließ ihr Körbchen fallen, raffte ihren Rock zusammen und rannte panisch davon.

      »Warum rennst du denn weg? Ich bin’s doch nur, die Marta Ionescu!«, schrie sie der Flüchtenden hinterher. Vergebens. Die Frau drehte sich nicht einmal mehr um, gab nur einen kreischenden Ton von sich. Dem Kind blieb nichts anderes übrig, als in dieselbe Richtung weiterzugehen.

      Es dauerte noch zehn Minuten, dann kam endlich eine kleine Siedlung in Sicht. Von neuer Hoffnung beseelt, beschleunigte Marta ihren Schritt. Sie kannte diesen Weiler, es handelte sich um die Nachbarssiedlung. Marta hatte ihre Mutter schon des Öfteren dorthin begleiten dürfen, weil diese für einige der Frauen bei Bedarf Nähund Stopfarbeiten erledigte. Erleichtert ging sie auf eines der Häuser zu, in denen ihre Mutter bekannt war. Die darin lebende Witwe hatte ihr erst vor kurzem einen Apfel geschenkt.

      Die Tür war fest verrammelt, kein Licht erhellte die schmutzigen Fenster. Die hübsche himmelblaue Farbe, die Marta erst vor kurzem so bewundert hatte, schien in Windeseile verblichen zu sein. Sie blätterte bereits in großen Stücken ab. Sooft sie auch an der Tür klopfte und rief, es drang keinerlei Lebenszeichen nach draußen. Also musste sie weitergehen.

      In der angrenzenden Hofeinfahrt stand jene flinke Frau, welche gerade vor ihr weggelaufen war. Atemlos und wild gestikulierend, erzählte sie den Bewohnern des Hofes etwas über einen

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