Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner
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Читать онлайн книгу Der Schreckenswald des Hoia Baciu - Marie Kastner страница 2
Sein drittes Kind, eine zarte Tochter namens Mia, war leider schon in ihrem ersten Lebensjahr an einem Fieber verstorben. Das war vor vierzehn Jahren gewesen. Er wollte dennoch nicht klagen, denn seine beiden wohlgeratenen Nachkommen und drei Enkelkinder trösteten ihn seither über diesen Verlust hinweg. Der Tod gehörte nun mal untrennbar zum Leben, dessen war er sich bei aller Trauer bewusst.
Etwas Seltsames riss den Schäfer abrupt aus seinen sentimentalen Gedankengängen. Dabei handelte es sich allerdings um kein Geräusch – eher um das Gegenteil davon.
Es war totenstill. Bis auf das Summen der Fliegen und Honigbienen, die den Schäfer umschwirrten, drang kein Laut an Hoias Ohren. Alarmiert blickte er auf, suchte am Rande jenes lichten kleinen Waldstücks, welches er seit der Jugend wie seine Westentasche kannte, nach seiner Herde.
Aber da war nichts. Kein einziges Schaf, kein Hund. Er runzelte erstaunt die Stirn, kratzte sich erst einmal nachdenklich am kahlen Hinterkopf. So schnell ließ er sich grundsätzlich nicht aus der Ruhe bringen.
Narrten ihn womöglich bloß seine Augen? In letzter Zeit sah er nicht mehr so gut wie früher. Aber nein … die Umrisse der Bäume vermochte er ganz klar zu erkennen, somit konnte eine Sehschwäche wohl kaum die Ursache für das plötzliche Verschwinden seiner kompletten Herde sein.
Seit er sich zum Schnitzen hingesetzt hatte, waren allerhöchstens fünf bis zehn Minuten vergangen. Und wieso hätten die Schafe überhaupt in diesen Wald laufen sollen? Sowas war bislang noch nie vorgekommen, schon weil dort der Bodenbewuchs nicht viel Nahrhaftes zum Knabbern hergab.
›Könnten sie sich erschreckt haben und davongelaufen sein?‹ Manchmal trieben ungezogene Zigeunerjungen in dieser Gegend ihr Unwesen. Es half alles nichts, er würde auf der Stelle nachsehen gehen müssen. Stöhnend rappelte er sich hoch.
Mit jedem Schritt, der ihn näher an den Waldrand trug, wurde die Sache mysteriöser. Es schien, als habe die Natur den Atem angehalten, als sei die Zeit selbst stehengeblieben. Es herrschte völlige Windstille. Sogar die Vögel waren verstummt, der Himmel wirkte wie leergefegt.
Hoia begann aus sämtlichen Poren zu schwitzen, beschleunigte beunruhigt seinen Gang. Noch immer keine Spur von seinen Schafen. Seine Rufe und Pfiffe verhallten ungehört.
Er erreichte keuchend die ersten Bäume. War es möglich, dass der Wald heute erheblich düsterer wirkte als sonst? Er schüttelte den Kopf, schalt sich einen einfältigen Narren.
Höchstwahrscheinlich war das fahrende Volk an solchen trügerischen Wahrnehmungen schuld, denn dieses war nach seiner Ansicht für zahllose Mythen und Legenden verantwortlich, die sich um diesen Landstrich rankten. Man raunte sich hinter vorgehaltener Hand haarsträubende Geschichten über böse Geister zu, die angeblich mit grünen Laternen nach verirrten Lebenden suchten, um sie für immer in ihren Bann zu ziehen. Männer wie Frauen mieden das kleine Waldstück wie die Pest. Die meisten wagten es nicht einmal, in seine Richtung zu blicken.
Ammenmärchen. Nichts als saublöde Ammenmärchen, die ihm jetzt diese Trugbilder bescherten. Von einem blutrünstigen Vlad in Transsylvanien bis hin zum sogenannten Lacul Dracului im Locvei-Gebirge – es gab Unmengen an unheimlichen Sagen in diesem verwunschenen Land und sehr häufig kamen angebliche Machenschaften des Teufels darin vor. Diese Geschichten waren höchstens zum Erschrecken von Frauen und kleinen Kindern geeignet, doch er, ein ausgewachsener, breitschultriger Hüne, würde sich hiervon bestimmt nicht ängstigen lassen.
Es reichte schon, dass seine sonst recht bodenständige Frau es sich jedes Jahr in der ersten Märzhälfte nicht nehmen ließ, eine rotweiße Mărţişor[Fußnote 2]-Schnur samt silbernem Schneeglöckchenanhänger als Talisman im Ausschnitt zu tragen. Auch dieser beliebte Brauch gründete auf einer uralten Sage. Immerhin, sie sah damit zum Anbeißen aus.
»Ach, albernes Zeug!«, schimpfte Hoia, wischte sich mit dem Hemdsärmel Schweißperlen von der Stirn, trat beherzt zwischen zwei jungen Birken hindurch … und ward nicht mehr gesehen.
*
Die dralle Mirela rannte schon zum fünften Mal nach draußen, um besorgt nach ihrem Gatten und den Schafen zu sehen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Irgendwo in der Ferne schrie ein Käuzchen. Valeriu versuchte nach Kräften, seine höchst nervöse Mutter zu beruhigen.
»Jetzt mach dir mal keine Sorgen. Vater kann bestens auf sich aufpassen, wie du weißt. Bestimmt hat ihn einer der Nachbarn um Hilfe gebeten – oder ein Schaf hat sich verirrt und er muss es erst suchen gehen. Niemals würde er einen seiner Schützlinge da draußen alleine zurücklassen.
Möglicherweise sind auf dem Rückweg Lämmchen geboren, so wie letztes Jahr einmal, erinnerst du dich? In einem solchen Fall muss er ein Weilchen warten, bis er die Herde weitertreiben kann. Die Jungtiere wären sonst noch zu schwach. Komm, lass uns schon einmal essen. Es gibt viel zu erzählen und wir haben heute gute Geschäfte gemacht.«
Behutsam packte der drahtige junge Mann seine widerspenstige Mutter an beiden Schultern, drehte sie mit sanfter Gewalt zu sich um und sah ihr tief in die verweinten Augen. »Der kommt bald zurück. Ich bin mir da vollkommen sicher.«
»Ich fühle aber in meinem Leib, dass hier etwas nicht stimmt! Meine Verbindung zu Hoia ist nach all den Jahren noch so innig wie am ersten Tag, auch wenn wir gelegentlich erbittert streiten. Du kannst es dir ruhig für deine eigene Ehe merken, Valeriu. Das einzige Gift, das die Leidenschaft zwischen Mann und Frau tatsächlich abtöten kann, ist Gleichgültigkeit. Und dein Vater ist mir alles andere als gleichgültig«, protestierte Mirela, verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Ihr dürft euch gerne schon die Teller füllen, wenn ihr Hunger habt – aber ich bleibe hier stehen und werde erst beruhigt sein, wenn ich Hoias Laterne am Horizont erkennen kann.«
Seufzend setzte sich Valeriu zu seinem Bruder an den groben Holztisch zurück, zuckte ratlos mit den Schultern. »Was denkst du?«, raunte er Radu hinter vorgehaltener Hand zu.
»Ehrlich gesagt … ich weiß es nicht. Es könnte ja tatsächlich sein, dass Vater am Wald auf Räuber getroffen ist, sich ein Bein gebrochen hat oder schon wieder in tätliche Streitigkeiten mit einer gewissen Sippe geriet. Ich schlage also vor, dass wir ihn suchen gehen – aber zuerst muss ich einen Happen essen, sonst fehlt mir die Kraft für eine Nachtwanderung. War ein überaus anstrengender Tag heute.«
»Gut … in Ordnung, das klingt recht vernünftig. Hoffentlich ist Vater zurück, bis wir nachher die Löffel beiseitelegen. Mir ist heute nämlich ebenfalls nicht nach einem weiteren Fußmarsch zumute. Außerdem werden schließlich auch wir beide zu Hause erwartet.«
Schweigend löffelten die Brüder ihren Gemüseeintopf, behielten hierbei ihre Mutter im Blick. Diese stand noch immer vollkommen bewegungslos im Türrahmen der Holzhütte. Die Fransen ihres um die Schultern gelegten Wolltuches bebten gelegentlich, vermutlich weinte sie leise vor sich hin.
Eine Stunde später war der Schäfer noch immer nicht zurückgekehrt. Zu allem Überfluss kündigte sich ein Wärmegewitter an, in der Ferne zuckten die ersten Blitze. Wind kam auf. Der Wipfel einer neben dem Geräteschuppen stehenden alten Kiefer wurde von auffrischenden Böen ordentlich durchgeschüttelt.
»Glaubt ihr mir nun allmählich, dass da etwas faul sein muss? Ich halte das Warten nicht mehr