Scheidung kann tödlich sein. Andrea Ross

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Scheidung kann tödlich sein - Andrea Ross

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wir nun hinüber in die »Neue Heimat«, wie das angrenzende Viertel heißt. Dort befinden sich ausnahmslos mehrstöckige Mietshäuser mit gaaanz vielen Klingelknöpfen. Wir haben jeder eine Packung Streichhölzchen dabei, die wir sorgsam an einem Ende spitz zu geschliffen haben. Die »dicke Ricke«, wie wir Ulrike gerne nennen, hat wieder mal Schiss. »Aber wenn wir jetzt echt Ärger kriegen ...?!« Wir anderen tun so, als wäre Angst für uns ein Fremdwort, nur etwas für Weicheier. »Dann geh doch heim zu Mami, wenn du dich nicht traust!«. Nein, das wird Ulrike nicht tun. Man hat doch Ehre im Leib.

      Das Rollkommando nimmt jeweils mehrere Hölzchen aus der Schachtel, hält sie bereit. »Fertig?«

      »Yo, fertig!« Wir fahren wie eine rasende Horde auf den Eingang eines Mietshauses zu, stecken in Windeseile so viele Streichhölzer wie möglich in den Spalt neben so vielen Klingelknöpfen wie möglich, um sie in hineingedrücktem Zustand zu arretieren. Ein infernalisches Klingelkonzert im Haus ist bis hier unten zu hören, wir registrieren es mit diebischer Freude. Im Gegensatz zu früher verstecken wir uns aber nicht im Gebüsch, sondern verarschen auch noch lautstark die Hausbewohner. Bis die ersten wutentbrannt die Treppe heruntergestürmt kommen, um uns frischzumachen. Wir haben da einen Wettbewerb laufen: wer als letztes abhaut, ist der mutigste, der neue King der Kinderbande.

      Atemlos und vollgepumpt mit Adrenalin sitzen wir an unserem Lieblingsplätzchen, am Wehr des Roten Mains, der gemächlich durch unsere Heimatstadt fließt. Wir beglückwünschen uns gegenseitig zu unserem Mut, zu unserer Großtat. Wie könnte man das noch optimieren, noch mehr Spaß kriegen? Unsere Phantasie kennt keine Grenzen. Am Abend suchen dann verzweifelt mehrere Elternpaare nach den Streichhölzern, die sie doch, »glaub ich wenigstens«, beim letzten Einkauf mitgenommen haben. Hihi ... Klingelputzen ist beileibe nicht die einzige Aktion, die uns so einfällt. Da werden nichtsahnende Bauern, die das Maisfeld abernten, von einem Baum aus mit Wasserbomben beworfen, an Schnürchen befestigte, alte Geldbeutel auf den Gehweg gelegt, um sie in letzter Sekunde wegzuziehen, wenn jemand sie aufheben will ... das habe ich von Donald Duck gelernt, das Lesen der »Lustigen Taschenbücher« bildet eben. Wir pflücken Schlüsselblumen-Sträußchen, die wir hinterher an der Haustür an gerührte Omas verkaufen, um unser Taschengeld aufzubessern; mit einem unschuldigen Augenaufschlag, versteht sich.

      Eines Tages beschließen wir, eine Aufnahmezeremonie ins Leben zu rufen. Denn es darf nicht jeder bei uns Bandenmitglied werden, wir müssen die »Laschis« ausfiltern. Wer weiß, womöglich würden die ja sonst petzend und heulend heim zu Muttern laufen, wenn es etwas ruppiger zugeht.

      Auch da fehlt es uns nicht an Ideen. Zum Schluss wird einhellig beschlossen, dass jedes neue Mitglied sich einer schmerzhaften Prozedur unterziehen muss, wenn es mit uns um die Häuser ziehen will. Schon, um zu verhindern, dass eines Tages mein kleiner Bruder auf die Idee kommt, sich an unsere Fersen zu heften.

      Die anderen nicken andächtig, als ich ihnen diesen Zusammenhang eindrucksvoll schildere. Auch sie haben teilweise jüngere Geschwister. Der oder die »Neue« hat künftig also folgendes zu ertragen, und das, ohne zu jammern:

      Erst ziehen alle feierlich zum Roten Main hinunter, wo eine Baumreihe das Flussufer säumt. Dann darf sich das arme Opfer der Kleidung entledigen, die sodann von einem anderen Bandenmitglied oben in die Krone eines Baums gehängt wird. Nackig muss der Proband da raufklettern, wobei dies wegen der rauen Baumrinde meist nicht lustig ist. Besonders, weil er auch barfüßig durch Brennnesseln muss, die rund um den Baum den Bodenbewuchs bilden. Sofern er das geschafft hat, angezogen wieder auf dem Boden steht und die roten Bläschen und Schrammen auf seinen Unterschenkeln und Füßen entsetzt betrachtet, leiten wir Teil zwei ein.

      Dafür holen wir spitze Steine vom Flussufer, die dann hinten in Pullover oder T-Shirt gesteckt werden, zusammen mit einer Handvoll Brennnesseln. Der Novize wird gefesselt wie ein Rollbraten, dann einen Abhang hinuntergerollt, wobei sich die Steine schön in die Haut bohren und die Brennnesseln den Rest erledigen. Wenn er dann nicht laut heulend das Weite sucht, dann ist er drin, ist aufgenommen und darf beim nächsten Interessenten denjenigen machen, der die Fesselung vornimmt. Mann, sind wir stolz auf unsere Ideen.

      Es gibt aber auch Tage, da sind wir leider etwas gehandicapt, können nichts anstellen. Müssen uns auf dem öden Spielplatz herumtreiben, Gummioder Kästchenhüpfen spielen, genau wie langweilige Kinder. An solchen Tagen bekommen wir Ilona aufs Auge gedrückt, damit wir mit ihr spielen. Ilonas Mutter kennt all unsere Mütter, somit haben wir keine Chance, wenn sie mit ihrer Tochter anrückt, sie uns übergibt.

      Wir wissen es ja: Ilona ist geistig behindert, mongoloid. Einerseits tut sie uns leid, ist uns klar, dass sie sonst gar keine Möglichkeit hat, mit Kindern zu spielen. Sie ist ja auch ganz lieb, so rührend unschuldig irgendwie. Andererseits zeigt sie oft unheimliche Reaktionen, tut Dinge, die total eklig sind. So fand sie zum Beispiel einmal im Vorgarten einen toten Vogel, den sie aufhob, in den Mund steckte und ablutschte. Uns anderen war speiübel, wir informierten ihre Mutter und wollten an diesem Tag nichts mehr mit ihr zu tun haben.

      Ein anderes Mal saß sie mit uns auf dem Drehkarussell, das man selber anschieben muss. Natürlich versuchen wir immer wieder, uns hierbei an Geschwindigkeit zu übertreffen, sonst ist es langweilig. Jeder hat sein Lieblingsbänkchen auf diesem Karussell, es gibt je ein rotes, grünes, blaues und ein gelbes. Ilona hat traditionell immer auf dem gelben gesessen, denn diese Farbe mag niemand anderes. Aber das Mädchen wusste nie, wann es absteigen musste. So kotzte sie ganz fürchterlich die gelbe Bank voll und dazu noch quer über das restliche Karussell. Igitt! Selbst als der Regen das Erbrochene einige Tage später wieder abgewaschen hatte, rührte keiner von uns jemals wieder die gelbe Bank an.

      Diese Ilona ist, als sie uns ihre Mutter wieder aufdrängt, dieses Mal in Begleitung, und wir sind zum ersten Mal richtig begeistert. Einen Hundewelpen hat sie dabei, den hat sie gestern zum Geburtstag geschenkt bekommen. Es handelt sich um ein kleines, wolliges Ding, bei dem man kaum weiß, wo vorne oder hinten ist. Wir streicheln das Tierchen, spielen mit ihm. Ilona nennt den Hund »Mucki«, kann aber irgendwie nicht viel damit anfangen. Einige Male sehen wir, wie sie nach ihm tritt, ihn in die schwarze Nase zwickt. Sie ist halt nicht normal im Kopf, somit wundern wir uns nicht allzu sehr. Aber wenn wir den Hundi danach immer streicheln, wird er es schon nicht allzu übelnehmen.

      Die Wochen vergehen und immer kommt Ilona mit Mucki. Wir mögen ihn nun nicht mehr so gerne, denn durch das ständige Treten ist der Hund irgendwie komisch geworden. Er knurrt und des Öfteren hat er schon bei einigen von uns unten am Hosenbein gezerrt und so ausgesehen, als wollte er zubeißen. Da er nun immer größer wird, ist das gar nicht mehr so lustig. Gestern hat das blöde Vieh gar den Saum meiner Lieblingsjeans zerfetzt und ich habe von meiner Mutter einen Anschiss kassiert.

      Als es uns zu viel wird, beschließen wir, künftig auf Ilonas und Muckis Gesellschaft komplett zu verzichten, das kann man uns jetzt echt nicht mehr zumuten. Wir erklären ein Kellerabteil zur Bandenzentrale, sitzen auf Obstkisten und überlegen, was zu tun ist. Nachdem wir uns die Köpfe heiß geredet haben, steht fest: wir stellen eine Wache ab, die oben an der Haustür erst einmal überprüft, ob Ilona, ihre Mutter oder der dämliche Hund draußen vor dem Haus sind. Erst wenn Entwarnung gegeben wurde, verschwinden wir heimlich, still und leise, und zwar ohne Ilona und ihren Köter. Natürlich ist niemand von uns glücklich, der gerade zur »Muckiwache« eingeteilt wird.

      Heute ist Sabrina oben. Sie pfeift dreimal Richtung Keller, und wir wissen: die Luft ist rein. Wie die Verbrecher drücken wir uns durch das dunkle Treppenhaus Richtung Haustüre, denn selbstverständlich wissen meine Eltern nicht, dass ihr Keller neuerdings eine Bandenzentrale ist. Uff, draußen! Jetzt schnell um den Block und hinunter zum Main, bis dorthin darf Ilona nicht.

      Als wir gerade erleichtert um die Ecke biegen wollen, kommt Mucki, laut kläffend, wie ein bösartiger Blitz um die Ecke gehechelt. Ach, du Scheiße! Der hat ganz offensichtlich vor, uns anzugreifen, wahrscheinlich hat ihn Ilona gerade eben wieder gequält. Diese Erkenntnis macht uns Beine, wir rennen in alle Himmelsrichtungen

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