Stasi-Konzern. Uwe Klausner
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Nicht gerade erpicht auf einen Disput, riss sich der Kriminalhauptkommissar außer Dienst am Riemen. »Wieso – wo brennt’s denn?«
»Live-Interview mit einem Fluchthelfer. Punkt zehn. Thema: ›Tod eines DDR-Grenzpolizisten.‹ Noch Fragen?«
»Das heißt nicht DDR, das heißt …«
»Ostsektor von Berlin, ich weiß!«, fiel Lea Sydow ihrem Mann ins Wort. »Wie auch immer – keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.«
»Na, wie denn wohl! Indem du ihn fragst, wie sich alles abgespielt hat.«
»Genau das ist der Punkt, Tom.« Die Ellbogen auf der Tischkante, verschränkte Sydows Frau die Hände und ließ das Kinn auf den Daumenkuppen ruhen. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber … aber irgendwie behagt mir die Angelegenheit nicht. Versteh mich nicht falsch: An sich finde ich es in Ordnung, dass man Leuten, die es drüben nicht mehr aushalten, unter die Arme greifen muss. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste mein Leben hinter Mauer und Stacheldraht … Nein, Tom, was das betrifft, versagt meine Fantasie. Ich glaube, ich würde die glatte Wand hochgehen.«
»Ich auch, das kannst du mir glauben.« Nicht sicher, worauf Lea hinauswollte, schob Sydow den Teller beiseite, täuschte Gelassenheit vor und fragte: »Und wo liegt dann das Problem?«
»Das Problem, mein lieber Tom, liegt darin, dass bei der Schießerei ein Mensch ums Leben gekommen ist. So etwas darf nicht passieren. Mord bleibt nun einmal Mord, egal, ob es einen Grepo oder einen deiner Kollegen trifft.«
»Ex-Kollegen.«
»Na schön, dann eben Ex-Kollegen.« Sydows Frau stieß einen gequälten Seufzer aus. »Du verstehst, was ich damit sagen will?«
Sydow deutete ein Nicken an. »Das heißt aber nicht, dass ich einer Meinung mit dir bin.«
»Hätte mich auch gewundert. Und wieso nicht?«
»Die Jungs haben ihr Leben riskiert, Lea. Sie haben sich abgerackert, um anderen zu helfen. Ich war zwar nicht dabei, aber wer sagt dir, dass der Betreffende nicht in Notwehr gehandelt hat?« Die Hände verschränkt, lehnte sich Sydow zurück. »Siehst du, jetzt kommst du ins Grübeln.«
»Mord bleibt Mord, Tom. Davon lasse ich mich nicht abbringen.«
»Falls es dich beruhigt: Ich auch nicht. Aber es ist nun einmal so, dass der Bau eines Fluchttunnels kein Zuckerschlecken ist. Wer mitmacht, weiß, dass er ein großes Risiko eingeht. Und wer, frage ich dich, hat denn schon Lust, den Rest des Lebens im Gelben Elend zu verbringen? Wer immer den Grepo auf dem Gewissen hat: Versetz dich doch mal in seine Lage. Da schuftest du wie ein Sklave, ackerst wie verrückt und verlangst keine müde Mark dafür. Und riskierst, dass dich die Stasi hopsnimmt und nach allen Regeln der Kunst durch die Mangel dreht. Würde dir das gefallen? Nein? Ob du es nun hören willst oder nicht, Lea: Bei einem Unternehmen wie dem Tunnel 57 musst du mit allem rechnen. Vor allen Dingen, dass dir jemand in die Quere kommt. Da kann verdammt noch mal eine Menge schiefgehen. Versteh mich nicht falsch, Lea: Mir tut der Grepo, der dran glauben musste, genauso leid wie dir. Aber was nicht zu ändern ist, ist nun mal nicht zu ändern. Und noch was: Der Fluchthelfer, der auf den NVAler geschossen hat, hat es nicht aus Jux und Dollerei getan. Das kann ich mir nicht vorstellen. Wer sagt dir, dass es einer von den Fluchthelfern war? Schon mal was von Querschlägern gehört? Oder von dem, was die Amis ›friendly fire‹ nennen?«
»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass …«
»Ich glaube überhaupt nichts, Lea. Außerdem war ich nicht dabei.«
»Aber?«
»Aber ich weiß, wozu die da drüben fähig sind. Denen traue ich alles zu. Allen voran der Stasi. «
»Weißt du eigentlich, wie du dich gerade anhörst? Wie der fleischgewordene kalte Krieger. Hier die Guten, dort drüben die Schlechten. Um ihnen eins auszuwischen, ist jedes Mittel recht.« Bevor sie fortfuhr, holte Sydows Frau tief Luft. »Was macht es schon, wenn einer von denen draufgeht. Kommt in den besten Familien vor, oder? Wo gehobelt wird, fallen nun mal Späne. Hauptsache, der Coup gelingt. Und was den Getöteten betrifft: War doch eh nur einer von der NVA, oder?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber gedacht.«
»Wenn du meinst – du musst es ja wissen.«
»Du bist doch nicht etwa eingeschnappt, oder?«
»Eingeschnappt – ich? Wo denkst du hin!« Natürlich war er eingeschnappt. Und wie. Aber das würde er nicht zugeben. »Lass sehen – was haben wir denn da! Es geht doch nichts über Ingwerkuchen made by Lea, findest du nicht auch?«
»Lenk nicht ab, Tom.« Da auch sie einem Krach aus dem Weg gehen wollte, trank Lea Sydow noch einen Schluck Kaffee, erhob sich und umrundete den Tisch. Dann fuhr sie ihrem Mann durchs Haar. »Und sitz nicht den ganzen Tag hier rum. Bis ich wieder hier bin, kann es dauern.«
»Wie lange denn?«
»Keine Ahnung.« Sydows Frau nahm seinen Kopf zwischen die Hände und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Wie wär’s, wenn du mal einen Dauerlauf machst? Das bringt dich auf andere Gedanken.«
Dauerlauf. Das fehlte noch. Wenn Churchill in einem Punkt recht gehabt hatte, dann darin, dass Sport dem Wohlbefinden eines Gentleman abträglich war. Zwar rauchte er äußerst selten und genehmigte sich nur hin und wieder ein Bier, aber diesbezüglich war er mit seinem Landsmann einer Meinung.
Dauerlauf? Nicht mit ihm.
Dann schon lieber eine FdH-Kur.
»Was guckst du denn so? Hab ich etwas Falsches gesagt?«
»I wo. Wo denkst du hin.«
»Sei doch nicht immer gleich be…«
»Ich bin nicht beleidigt, Lea. Ich weiß selbst, dass ich zu viel Speck auf den Rippen habe.«
»Speck oder nicht – ich muss jetzt los!«, erwiderte Lea Sydow, strich ihrem Mann über die Wange und hastete von dannen. »Mach’s gut, Brummbär – bis heute Nachmittag!«
Du hast gut reden!, dachte Sydow bei sich, verzehrte die Reste seiner Stulle und konnte der Versuchung, ihr eine Portion Rührei folgen zu lassen, nicht widerstehen. Ein opulentes Frühstück war nicht zu verachten, besonders wenn man Kap Hoorn nur knapp umschifft hatte.
Dachte er wenigstens.
Und ahnte nicht, was ihm noch bevorstehen würde.
Doch dann, kaum dass seine Frau zum Aufbruch gerüstet hatte, geschah es. Telefon, zu allem Unglück Dauerläuten. Das bedeutete nichts Gutes.
Sydow angelte sich einen Speckstreifen, erhob sich, eilte mit vollem Mund an den Apparat und nahm ab.
Kurz darauf, nach Beendigung des Gespräches, ließ er den Hörer auf die Gabel sinken.
Freitag, der 9. Oktober 1964, versprach ein besonderer Tag zu werden.
Ein Tag, an den er noch lange denken