Zurück im Zorn. Christoph Heiden
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»Wir haben’s vermasselt«, warf er sich vor und trat den Stapel Zeitschriften um. Seine Kehle fühlte sich ausgedörrt an, während ihm das Arschwasser in Strömen floss. Er fokussierte mit der Kamera das Comic, auf dessen Cover ein grünes Monster mit feuerroten Augen prangte. »Guck dir den Mist an. Einfach krank.«
Im nächsten Augenblick packte ihn ein leichter Schwindel, als würde man nach nervtötender Warterei vom Zahnarzt aufgerufen werden. Die Zeitreise forderte ihren Tribut, vielleicht auch die Aufregung oder sein Alter. Er schob die Kamera in seine Weste, suchte am Schreibtisch Halt und wollte durchatmen, aber die Luft in diesem Raum war abgestanden und tot. Aus dem Erdgeschoss drang das Knallen der Haustür, danach ein paar vage Geräusche, bis jemand brüllte: »Komm runter, du Arschloch.«
Nur keine Sorge
Von der Koloniestraße schwenkte Anna auf eine einspurige Zufahrt, stapfte über den Schnee an brachen Feldern und verdorrten Distelstauden vorbei, und sobald sich in der Ferne das Gutshaus erhob, verlangsamte sie ihre Schritte.
Die Vormittagssonne erhellte die gesamte Südfassade, verwandelte die kleinen quadratischen Fenster in silbrige Schuppen. Majestätische Pappeln flankierten das Haus, und zwischen den Stämmen sah Anna den Schwarzen See schimmern, der sich wie glänzende Tinte in die Landschaft dehnte. Eine Schar Krähen stieg aus den kahlen Wipfeln empor, flog über sie hinweg und landete auf einem der Felder; das alles ohne Gekrächze, ohne das traurige »Rak Rak«. Das Anwesen ihrer Familie lag unter einer Glocke frostiger, fast geisterhafter Stille.
Anna betrat den verschneiten Parkplatz, in den die Zufahrtsstraße mündete. Die Spuren von Rollkoffern schlängelten sich durch den Schnee, während die Frostschutzdecken auf den wenigen Autos das Sonnenlicht reflektierten. Sie zog das Handy aus ihrer Manteltasche und prüfte die Uhrzeit. Der nächste Bus nach Rathenow fuhr in einer Stunde, immerhin. Sie versuchte, sich die Entschlossenheit in Person vorzuspielen, die Unerschütterliche, die Frau mit dem Plan. Selbsttäuschung als Antrieb und Motor, das bewährte Rezept. Sie klemmte die Daumen unter die Schultergurte ihres Rucksacks und überquerte mit festen Schritten den Parkplatz.
Als Anna nach dem Tod ihrer Eltern ins Gutshaus gezogen war, hatte dieser Parkplatz noch nicht existiert. Die intakten Zimmer hatten gerade für die Familie ausgereicht, der Rest war von Vernachlässigung und Zerfall geprägt gewesen. Im Putz hatten sich tiefe Risse bis hinauf ins dritte Stockwerk verzweigt; die Fenster waren gesplittert, die Dachschindeln brüchig, und im Gebälk hatten Schwalben gebrütet und Wespen labyrinthische Nester erbaut. Ein Paradies für Kinderaugen, eine Lebensaufgabe für Tante und Onkel. Heute präsentierte sich Anna eine Fassade, die in dem gleichen Pastell erstrahlte wie die Warteräume von Therapeuten und Zahnärzten.
»Nur keine Sorge«, hörte sich Anna sagen, »bei uns sind Sie gut aufgehoben.«
Ein kupferfarbenes Schild direkt neben der Eingangstür verkündete in kursiver Schrift:
Gutshaus am See
Inhaber: Stephan & Helene Majakowski
An der Stelle, wo früher eine Türklinke gesteckt hatte, krümmte sich nun ein senkrechter Griff aus Edelstahl; zweifellos waren ihr Onkel und ihre Tante geschmacklich in den 90ern hängengeblieben. Anna streifte ihre Handschuhe ab, und kaum dass sie das kühle Metall berührte, musste sie über ihre eigene Naivität den Kopf schütteln. Hatte sie tatsächlich geglaubt, die Zeit wäre hier stehengeblieben, eingefroren im Jahr 1995? Es kam ihr so vor, als hätte sie die wenigen Besuche seit ihrem Auszug unter dem Einfluss von Drogen oder Medikamenten hinter sich gebracht: der 50. Geburtstag ihres Onkels und später das Fest zum 50. ihrer Tante. Oder der spontane Überfall, als sie sich mit Paul im ewigen Liebesglück geglaubt hatte, ein Liebesglück, das die Vergangenheit und die Entfremdung zwischen ihr und ihrer Familie zu überstrahlen imstande gewesen war. Ein Liebesglück von allzu kurzer Dauer. Dem ersten Streit war die Einsicht gefolgt, dass selbst der kleinste Riss im Herzen einen größeren freizulegen vermochte. Für Anna gab es eben kein zack, zack und alles rein. Sie stampfte den Schnee von ihren Stiefeln, atmete durch und öffnete mit einem Ruck die Tür.
Im Foyer surrte die Heizung vor sich hin; auf dem roten Läufer die Abdrücke nasser Schuhsohlen. Die Sessel, die schon früher hier gestanden hatten, waren mit neuen lachsfarbenen Stoffen bezogen; in einem Prospekthalter klemmten Flyer, Broschüren und eine Sternkarte. Durch eine Schwingtür gelangte Anna in einen dämmrigen Speisesaal, und auch dieser Raum war menschenleer. Nachdem sie ihren Rucksack auf einem der vorderen Stühle bugsiert hatte, entdeckte sie am Ende des Saals den Wintergarten – der Neubau, von dem Danny Schmidt mit unverhüllter Missgunst gesprochen hatte. Sie lief an der Bar und den Tischen vorbei und blieb nahe der offenen Glastür stehen.
Zehn, bestenfalls fünfzehn Gäste nahmen gerade ihr Frühstück ein. Zwei Kinder fischten mit demonstrativer Ekelmiene die Pelle von ihrem Kakao; die übrigen Gäste mochten um die 50 oder älter sein. Ein Kerl schaute grimmig von seiner »MAZ« auf, als würde ihn Annas bloße Gegenwart am Lesen hindern; am Nachbartisch eine ältere Dame, die so selbstvergessen in die Landschaft starrte, dass es fast verdächtig wirkte. An einem größeren Tisch plauderten zwei Pärchen in ungehemmter Lautstärke, als würden sie ihre Geselligkeit lediglich vortäuschen. Unter Annas Nervosität gärte ein Gefühl der Scham; sie hatte den Eindruck, sämtliche Gäste wüssten, wer dort an der Glastür stand. Anna Majakoswki, die einzige Überlebende der Brandnacht. Das ewig zwölfjährige Mädchen.
Instinktiv trat sie in den Speisesaal zurück und verharrte im Halbschatten. Sie spähte über die Gäste hinweg nach draußen, und allein die Aussicht auf den See machte ihr deutlich, dass sie fort wollte, nicht nur von diesen Menschen, sondern von allem. Sie sollte nicht hier sein, denn das war kein namenloser See in Brandenburg, keine beliebige Villa im Havelland. Hast du toll gemacht, sagte sie sich. Typisch Anna. Sie versuchte ihre Unsicherheit mit einem Blick aufs Handy zu bekämpfen. 10. 25 Uhr. Mindestens drei Busse fuhren heute noch nach Rathenow.
»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Anna wandte sich um und erkannte das Gesicht ihres Cousins. David Majakowski. Sie starrten einander an, als hätte keiner von ihnen die passende Reaktion parat. Ihr Anblick schien seine Gesichtszüge förmlich einzufrieren, allerdings konnte sie nicht sagen, ob vor Erstaunen oder Entsetzen. Das Gemurmel der Gäste und das Klirren des Bestecks rückten in den Hintergrund; zwischen ihnen nur Platz für Stille.
Ein Mädchen rennt mit einem Teddy im Arm die Stiege empor, die Wangen glühen vor Scham, denn weder die Beichtbriefe aus der »Bravo« noch die geheimen Runden mit den Freundinnen haben es auf ein solches Geschenk vorbereitet; und das Mädchen durchquert den langen Flur und eilt in die Stube, wo es den Teddy aufs Bett stellt, ganz nahe am Kopfkissen, sodass sie einander beschützen können, das Mädchen den Teddy und der Teddy mit seinen riesigen braunen Glasaugen die zwölfjährige Anna.
David öffnete seine Arme, machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie. Er war einen Kopf größer als sie und in dem Alter, das ihr Bruder heute gehabt hätte. Mit der Linken fuhr er ihr über den Rücken, einmal, zweimal, dann schob er sie sachte von sich, und in seinen Mundwinkeln formte sich ein Grinsen. Davids Grinsen, Davids Lächeln. Ein Ausdruck, der sie schon in ihrer Kindheit verhext hatte und der sie wieder zur kleinen, unreifen Cousine werden ließ.
»Mannometer«, sagte David, und gleich danach folgte jene Frage, vor der sie sich seit ihrer Abreise gefürchtet hatte. »Was machst du denn hier?«
Rosarote