Das fehlende Glied in der Kette. Agatha Christie
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Читать онлайн книгу Das fehlende Glied in der Kette - Agatha Christie страница 5
Ungefähr um Viertel vor sieben trieb Mrs Inglethorp uns zur Eile an, weil wir sonst zum Abendessen zu spät kämen, da an diesem Abend früher als gewöhnlich gegessen wurde. Wir mussten uns sehr beeilen, um rechtzeitig fertig zu werden, und noch vor Beendigung der Mahlzeit wartete schon das Auto vor der Tür.
Die Veranstaltung wurde ein großer Erfolg, Mrs Inglethorps Rezitation erhielt donnernden Beifall. Es wurden auch noch lebende Bilder gestellt, wobei Cynthia mitmachte. Sie kehrte nicht mit uns zurück, da sie noch zu einem Essen eingeladen war und den Abend mit ein paar Freunden verbringen wollte, die bei den lebenden Bildern mitgewirkt hatten.
Am folgenden Morgen frühstückte Mrs Inglethorp im Bett, da sie ziemlich erschöpft war, aber sie kam äußerst energiegeladen gegen halb eins nach unten und rauschte mit Lawrence und mir im Schlepptau zu einer Luncheinladung davon.
»Was für eine reizende Einladung von Mrs Rolleston. Sie ist Lady Tadminsters Schwester, müssen Sie wissen. Die Rollestons kamen schon mit Wilhelm dem Eroberer nach England – eine unserer ältesten Familien.«
Mary hatte sich entschuldigt, sie hätte eine Verabredung mit Doctor Bauerstein.
Die Mahlzeit verlief sehr vergnüglich, und als wir losfuhren, machte Lawrence den Vorschlag, über Tadminster zurückzukehren, was höchstens eine Meile Umweg bedeutete, und bei Cynthia in ihrer Apotheke eine Stippvisite einzulegen. Mrs Inglethorp erwiderte, das sei eine glänzende Idee, aber da sie noch mehrere Briefe zu schreiben hatte, würde sie uns dort absetzen, und wir wollten dann später mit Cynthia in der Ponykutsche zurückkehren.
Wir wurden von einem misstrauischen Krankenhauspförtner festgehalten, bis Cynthia erschien und sich für uns verbürgte. In ihrer weißen Tracht sah sie sehr adrett und hübsch aus. Sie nahm uns nach oben in ihr Allerheiligstes mit und stellte uns ihrer Kollegin vor, einer furchteinflößenden Person, die Cynthia fröhlich mit Nibs anredete.
»Was für eine Menge Flaschen!«, rief ich aus, als ich meinen Blick in dem kleinen Raum herumwandern ließ. »Wissen Sie wirklich, was in jeder drin ist?«
»Sagen Sie doch mal was Originelles«, stöhnte Cynthia. »Jeder, der hier hochkommt, fragt dasselbe. Wir haben uns schon überlegt, ob wir dem Ersten, der das nicht sagt, einen Preis geben sollen. Und ich weiß auch schon, was Sie als Nächstes sagen werden: Wie viele Menschen haben Sie schon vergiftet?«
Ich lachte und bekannte mich schuldig.
»Wenn ihr wüsstet, wie schrecklich leicht es ist, jemanden aus Versehen zu vergiften, würdet ihr keine Witze drüber machen. Kommt, lasst uns Tee trinken gehen. Wir haben alle möglichen geheimen Vorräte in diesem Regal. Nein, Lawrence, das ist der Giftschrank. Der große da, stimmt.«
Wir tranken in ausgelassener Stimmung unseren Tee und halfen Cynthia hinterher beim Abwaschen. Gerade als wir den letzten Teelöffel weggeräumt hatten, klopfte es an die Tür.
Cynthia und Nibs sahen plötzlich ganz streng und furchteinflößend aus.
»Herein«, sagte Cynthia in höchst professionellem Ton.
Eine junge und ziemlich erschrocken dreinschauende Krankenschwester erschien mit einer Flasche, die sie Nibs geben wollte. Doch die verwies sie an Cynthia mit der ziemlich rätselhaften Bemerkung weiter: »Ich bin heute eigentlich gar nicht da.«
Cynthia nahm die Flasche und begutachtete sie mit der Strenge eines Richters.
»Das hätte schon heute Morgen hier herauf geschickt werden müssen.«
»Der Schwester tut das sehr leid. Sie hat es vergessen.«
»Die Schwester sollte die Anweisungen draußen an der Tür lesen.«
Der Ausdruck auf dem Gesicht der kleinen Krankenschwester verriet mir, dass sie der gefürchteten Oberschwester diese Botschaft bestimmt nicht ausrichten würde.
»Das kann deshalb erst morgen erledigt werden«, beendete Cynthia ihren Satz.
»Könnten wir es nicht vielleicht heute noch kriegen?«
»Hm. Wir sind zwar sehr beschäftigt, aber wenn wir es schaffen, dann bekommen Sie es«, sagte Cynthia gnädig.
Die kleine Krankenschwester ging wieder und sofort nahm Cynthia ein Glasgefäß vom Regal, füllte die Flasche wieder auf und stellte sie auf den Tisch draußen auf dem Flur.
Ich lachte.
»Die Disziplin muss gewahrt werden?«
»Ganz recht. Kommen Sie auf unseren kleinen Balkon. Von dort aus können Sie alle anderen Stationen sehen.«
Ich folgte Cynthia und ihrer Freundin und sie zeigten auf die verschiedenen Stationen und erklärten sie mir. Lawrence blieb drinnen, aber schon kurz darauf rief Cynthia ihm zu, er solle doch zu uns nach draußen kommen. Dann sah sie auf ihre Uhr.
»Nichts mehr zu tun, Nibs?«
»Nein.«
»Wie schön. Dann können wir ja zuschließen und gehen.«
An diesem Nachmittag hatte ich Lawrence von einer ganz neuen Seite kennengelernt. Im Vergleich zu John war er sehr verschlossen, und man kam nur sehr schwer an ihn heran. Er war in fast jeder Hinsicht das genaue Gegenteil seines Bruders: ungewöhnlich schüchtern und zurückhaltend. Dennoch besaß er einen gewissen Charme, und ich gewann den Eindruck, dass man ihn bei näherem Kennenlernen sehr lieb gewinnen konnte. Ich hatte mir immer eingebildet, sein Verhalten Cynthia gegenüber wäre eher zurückhaltend und sie verhielte sich in seiner Gegenwart eher schüchtern. Aber an diesem Nachmittag waren beide äußerst fröhlich und schwatzten miteinander wie zwei Kinder.
Als wir durchs Dorf fuhren, fiel mir ein, dass ich noch Briefmarken brauchte, deshalb hielten wir vor der Post an.
Beim Herauskommen stieß ich mit einem kleinen Mann zusammen, der gerade hineinging. Ich wich zur Seite und entschuldigte mich, als er mich plötzlich mit einem lauten Ausruf in die Arme schloss und herzlich küsste.
»Mon ami Hastings!«, rief er. »Das ist ja tatsächlich mon ami Hastings!«
»Poirot!«
Ich ging mit ihm zu der Ponykutsche.
»Das ist ein sehr erfreuliches Wiedersehen für mich, Miss Cynthia. Darf ich Ihnen meinen alten Freund, Monsieur Poirot, vorstellen? Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen.«
»Oh, wir kennen Monsieur Poirot«, sagte Cynthia fröhlich. »Wir hatten aber keine Ahnung, dass er ein Freund von Ihnen ist.«
»Natürlich kenne ich Mademoiselle Cynthia«, sagte Poirot ernst. »Meine Anwesenheit hier ist eine Folge von Mrs Inglethorps Güte.« Als ich ihn fragend ansah, fuhr er fort: »Ja, mein Freund, sie hat ihre Gastfreundschaft auch sieben meiner Landsleute zuteilwerden lassen, die unglücklicherweise als Flüchtlinge ihre Heimat verlassen mussten. Wir Belgier werden ihrer immer mit höchster Dankbarkeit gedenken.«
Poirot war ein kleiner Mann von ungewöhnlichem Aussehen. Er war knapp einen Meter sechzig groß, aber seine Haltung verriet Würde. Sein Kopf hatte genau die Form eines Eies, und er neigte ihn stets ein wenig zur Seite. Sein Schnurrbart war mit militärischer Strenge steif gezwirbelt. Seine Erscheinung war von