Isola Mortale. Giulia Conti
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»Eigentlich schon, aber wenn mich die Carabinieri erwischen, wird das teuer«, antwortete Carla grinsend, und auch Simon musste lachen. »Aber im Ernst, Stefano fährt mich«, fuhr sie fort und zeigte auf den Carabiniere, der oben vor dem Parkplatz das Flatterband bewachte. Auf eine erneute Begegnung mit ihm konnte Simon gut verzichten. Er verabschiedete sich von Carla und verschwand mit schnellen Schritten zu seinem Peugeot.
3
Eine helle Wintersonne holte Simon am nächsten Morgen schon früh aus dem Schlaf. Er richtete sich in den Kissen auf und sah aus dem nur spaltbreit geöffneten Fenster auf die andere Seeseite, wo die Sonne gerade aufging, jetzt knapp über den Hügeln stand und flimmernde Lichttupfer auf die Wand des Schlafzimmers warf. Eine leichte, aber stetige Brise blies wieder über den See, fuhr auch in die Palme neben Simons Haus und brachte ihre harten, langen Blätter zum Klappern wie einen Fächer. Luisa schlief noch. Simon stand vorsichtig auf, um sie nicht zu stören, schloss das Fenster und drehte die Heizung in dem kalten Raum auf.
Sie waren erst spät ins Bett gekommen; Simon hatte gekocht, mit Steinpilzen gefüllte Pasta, ein Kalbsragout mit Salbei und Weißwein, danach Käse mit einer Mostarda aus Feigen und zum Abschluss einen Zitronenkuchen. Dazu waren viel Barolo und hinterher noch Grappa geflossen.
Eigentlich hätte Simon diesen ersten Abend in Ronco gerne mit Luisa allein verbracht, aber sie hatte am Nachmittag mit Tommaso telefoniert und ihn zum Abendessen eingeladen. War das eine kleine Rache dafür, dass er am Morgen zu Carla aufgebrochen war?
Tommaso war Simons bester Freund, ein Rechtsanwalt, der sich erst vor kurzem zur Ruhe gesetzt hatte und in Orta San Giulio lebte, in einem stattlichen Haus am Seeufer, das früher der Sommersitz seiner Mailänder Familie gewesen war. Ohne Zweifel ein imposanter Mann, der den ihm noch ungewohnten Müßiggang wie die meisten Dinge in seinem Leben mit Witz und Ironie bewältigte. Kein Wunder, dass er Luisa gefiel, und sie ihm, so sehr, dass Simon manchmal Zweifel hatte, ob es nicht doch mehr als Freundschaft war, was die beiden zueinander hinzog.
Er ließ sich langsam auf der Bettkante nieder und betrachtete sie, ihren üppigen Körper und ihre auch im Winter leicht gebräunte Haut, ihr widerspenstiges Haar und ihr lebensfrohes, offenherziges Gesicht. Simon hatte Lust auf sie, wollte sie aber nicht wecken. Er näherte sich ihr behutsam, wollte ihre Nase küssen, spürte schon ihren warmen Atem, als sie sich mit einem wohligen Laut im Schlaf umdrehte und von ihm abwandte.
Seufzend stand Simon auf und machte sich auf den Weg nach Pella, um etwas Brot zu holen. Er ließ sich Zeit, fuhr gemächlich mit dem alten Peugeot die Uferstraße entlang, geblendet von den Blicken auf den See im gleißenden Winterlicht – diese ihn stets aufs Neue frappierende Schönheit –, aber es gelang ihm nicht, seine Gedanken von dem Geschehen am Morgen zuvor abzulenken. Immer wieder kehrten sie dorthin zurück, zu der Nonne mit der hässlich klaffenden Wunde am Kopf. Was konnte es für einen Grund geben, eine Ordensschwester umzubringen? Und wer konnte das getan haben? Und noch eine andere Frage beschäftigte ihn: Warum hatte Carla ihn an diesem Morgen an ihre Seite geholt? Die Tote zu identifizieren, konnte nicht wirklich schwierig sein. Sie kam aus einem Frauenkloster, und davon gab es nur zwei am See, das auf der Insel und eines in Pettenasco. Aus einem der beiden musste sie stammen, zumindest war das sehr wahrscheinlich. Ihre Herkunft war also kein großes Rätsel, auch wenn sie tatsächlich eine Deutsche sein sollte. Carla hätte ihn also eigentlich nicht gebraucht, überlegte Simon.
Aber was war mit der jungen Nonne passiert? Warum hatte jemand ihr nach dem Leben getrachtet? Und wie war sie auf den See gekommen? Das waren die eigentlichen Fragen, zu deren Klärung Simon gar nichts beitragen konnte. Warum hatte Carla ihn dann angerufen? Wollte sie ihn einfach nur an ihrer Seite haben? Und das Amulett mit der deutschen Gravur war ihr ein willkommener Vorwand gewesen? Das wäre immerhin eine Antwort, die ihm gefiele, dachte Simon, und erwischte sich dabei, dass er bei diesem Gedanken leise lächeln musste und unbewusst ein wenig mehr aufs Gas trat.
Beim Bäcker in Pella holte er eine Tüte Panini und Brioches, schaute danach noch in Linos Bar vorbei, um seine Zeitung zu holen, trank an der Theke einen schnellen Espresso. In der Sonne war es jetzt schon so warm, dass der Barchef sogar Tische und Stühle nach draußen gestellt hatte, an denen ein paar Frauen in wattierten Winterjacken und mit großen Sonnenbrillen saßen, Cappuccino tranken und sich lebhaft unterhielten.
Simon beschloss, noch einen Abstecher hinunter zum Hafen von Pella zu machen, der mit seiner von Bäumen gesäumten Promenade und Inselblick schönsten Ecke des kleinen Ortes. Am Ufer setzte er sich auf eine Bank in die Sonne, direkt vor die Gelateria, die für ihr gutes Eis am ganzen See bekannt, aber jetzt geschlossen war. Vor Simon, am flach in den See abfallenden Kai, lagen abgedeckt und gut vertäut die Tretboote, die im Sommer an Touristen vermietet wurden. Mit denen strampelten sie dann über das Wasser bis nach Orta und gerne auch um die Klosterinsel herum. Simon nahm eine mit Schokolade gefüllte Brioche aus seiner Tüte, biss genüsslich hinein, schaute auf die Insel und versank in Erinnerungen.
Eines der Tretboote, die vor ihm lagen, hatte er gemietet, als er vor Jahren für ein paar Tage mit Luisa am Lago Maggiore war und sie bei einem Ausflug mehr zufällig den Lago d’Orta entdeckten. Es war Anfang Juli und sehr heiß, aber Pella, damals vom Tourismus noch ziemlich unberührt, lag menschenleer in der Mittagssonne. Inzwischen hatte sich das geändert, machten die Reisebusse auch in Pella halt, um ihre Passagiere an der Schiffsanlegestelle zu entlassen, von wo sie mit Wassertaxis oder den drei großen Verkehrsschiffen auf die Insel und auf die gegenüberliegende Seite nach Orta übersetzten. Aber damals war Pella noch ziemlich verschlafen, und es war nicht schwierig gewesen, einen Tisch auf der Terrasse des am Hafen gelegenen Ristorante La Darsena zu bekommen, wo sie eine Pizza aßen. Hinterher tranken sie noch einen Caffè con gelato, einen Espresso, in dem eine Kugel Vanilleeis schwamm. Danach hatten sie das Boot gemietet, waren mitten auf dem See in das glasklare Wasser gesprungen, um dann, wie alle, einen Abstecher auf die Insel zu machen.
Schließlich waren sie noch auf die andere Seite des Sees gefahren, nach Orta, in den italienischen Bilderbuchort, der Perle des Sees, wie es in der Tourismuswerbung hieß, wo es, anders als in Pella, schon damals von Touristen wimmelte, Deutschen, Franzosen und Engländern, aber auch vielen Italienern, die auf der sich wunderbar zum See hin öffnenden Piazza flanierten und bella figura machten. Dort waren sie eine Weile durch die alten Gassen gestreunt, hatten sich noch ein Eis geholt, sich damit einen Platz auf einem der Holzstege gesucht und eng aneinander geschmiegt dem Treiben auf dem Wasser zugesehen, wo ein paar Kinder in kleinen Booten mit bunten Segeln unterwegs waren und um die Wette fuhren. Simon hatte sich leicht gefühlt wie schon sehr lange nicht mehr. Lag es an Luisa? Oder an diesem See? Jedenfalls war hier, an diesem heißen Julitag auf diesem Holzsteg, in Simon zum ersten Mal die Idee aufgekommen, dass der Lago d’Orta der Platz sein könnte, an dem er in Zukunft leben wollte.
Als Simon mit Brot und Zeitung nach Ronco zurückkehrte, war Luisa nicht mehr im Bett und auch nicht im Haus. Er ahnte schon, wo sie zu finden war. Mit ein paar schnellen Schritten war er auf der Terrasse, und dort sah er sie sofort. Sie schwamm im kalten See, allerdings nicht sehr weit draußen, vielleicht nur fünfzig Meter von ihm entfernt. Jetzt hatte auch sie ihn entdeckt, streckte eine Hand aus dem Wasser und winkte ihm fröhlich zu. Simon fror unwillkürlich, registrierte aber erleichtert, dass sie zumindest ihren Neoprenanzug übergestreift hatte. Schwimmausflüge im eiskalten See waren bei ihr nicht wirklich etwas Neues. Schon in den letzten Wintern hatte sie einige Male solche Touren unternommen, und im letzten Jahr sogar an einem Winterschwimmkurs an einem schottischen See teilgenommen.
Für eine Italienerin war das ein geradezu exzentrisches Verhalten. Während die deutschen und Schweizer Touristen, vor allem die Männer, gerne bereits im Mai in den dann meist noch sehr kühlen See sprangen, prustend und wild mit den Beinen zappelnd durch das Wasser pflügten und mit blauer Haut, aber in Siegerpose wieder herauskamen, musste der Lago d’Orta schon fast Badewannentemperatur