terrane Manifestationen. Klaus Paschenda
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Читать онлайн книгу terrane Manifestationen - Klaus Paschenda страница 15
„Sie sollten wissen, dass der Tisch hier nur scheinbar existiert“, erwiderte sie „und auch die Orangina existiert ebenfalls nur vermutlich.“
‚Warum sollten Orangina und Tisch nur vermutlich existieren? Die Frage hatten wir doch schon beantwortet.‘
Da fiel Maxim auf, dass er weder die Flasche geöffnet noch ein Glas dazugestellt hatte.
‚Manchmal bin ich ein echter Depp‘, dachte er. Schweigend öffnete er die Flasche.
Jetzt brauche ich einen netten Satz.‘
„Sie können bitte die tatsächliche Existenz der Orangina überprüfen.“
Daphne war geübt darin, keine Reaktionen zu zeigen. Am liebsten hätte sie laut gelacht. So hatte ihr noch niemand ein Getränk angeboten. Das Gespräch lief überhaupt nicht wie von ihr angedacht. Neuer Versuch.
„Um auf die Realitätswahrnehmung zurückzukommen. Ihre Kollegin hat angedeutet, dass es da einen Ansatz gäbe.“ Am liebsten hätte sie hinzugefügt: ‚Sie sind da sicher kompetent?‘ Aber der Mann war knochentrocken, hätte einen guten Juristen abgegeben.
„Wir schauen in der Datenbank nach.“
‚Was sollte man sonst dazu sagen?‘ Maxim aktivierte die Wand neben ihnen, die sich augenblicklich in einen Screen verwandelte. Er tippte auf das Feld ‚akustische Eingabe‘ und forderte an: „Sinnliche Wahrnehmung von Realität, Literaturauflistung nach Relevanz bezüglich Erkenntnistheorie aufsteigend, schnelles Lesetempo!“
Auf dem Screen raste eine Liste von Literaturstellen durch. Worte wie Physik, Biologie, Psychologie konnte Daphne gerade noch vorbeihuschen sehen. ‚So schnell kann doch kein Mensch lesen.‘
„Das ist das, was uns bekannt ist“, kommentierte Maxim. „Ist Ihre Frage damit beantwortet?“
„Nein, das bringt mich in der Sache nicht weiter.“
‚Ich kann auch kurz‘, dachte Daphne und fragte: „Wie lautet die Antwort kurz und knapp?“
‚Vielleicht muss ich das ein wenig erläutern‘, überlegte Maxim, ‚etwa wie für die Presse.‘
Er holte tief Luft und begann: „Nach der ersten Recherche von Watsons Kindern waren es circa Dreihunderttausend Zitate. Eine Schlüssigkeitsanalyse auf hermeneutischer Basis reduzierte das auf weniger als hundert. Davon waren die meisten inhaltlich mehr oder weniger deckungsgleich. Die kürzeste und aus heutiger Sicht brauchbarste Formulierung ist die des hypothetischen Realismus:
Wir nehmen an, dass es eine reale Welt gibt, dass sie gewisse Strukturen hat und dass diese Strukturen teilweise erkennbar sind, und prüfen, wie weit wir mit diesen Hypothesen kommen.38
Das ist es.“
Maxim lehnte sich ein wenig zurück. ‚Ob sie jetzt Ruhe gab? Das war doch nun sehr ausführlich.‘
„So einfach kann das nicht sein. Aber erst, wer sind Watsons Kinder?“
„Watsons Kinder sind unsere KI“, beantwortet Maxim die Frage.
Daphne wollte das genauer wissen: „Was hat Ihre KI mit Kindern zu tun? Lautet der Satz ausführlich ‚Watsons Kinder sind unsere Kinder‘?“
Maxim überlegte, was er offen legen sollte. Da das Gespräch als geheim klassifiziert war, antwortete er: „Wir helfen der IBM gelegentlich und sind dafür Premiumkunde. Unsere KI benutzt unter anderem das Programm Watson von IBM, daher der Name.“
‚Gut‘, dachte Daphne, ‚wir wissen schon lange, dass sie ihre KI vornehmlich bei IBM kaufen.‘
Sie kam auf das eigentliche Thema zurück: „Zu Ihrem Zitat. Das Problem wird so nicht gelöst. Man nimmt nur an, man hätte eine Lösung. Wir nehmen an, dass wir den Tisch so erkennen, wie er ist, solange wir nicht eines Besseren belehrt werden. Wissen Sie, wie unbefriedigend das ist? Ein anderes Beispiel, kein Tisch: Jemand wird wegen einer Straftat angeklagt. Aus verschiedenen Perspektiven sehen der Sachverhalt, die Tatsituation unterschiedlich aus. Wir wissen nicht, ob er die Tat begangen hat, sondern können nur vermuten. Mit Ihrem Zitat ginge das dann so weiter: Wir nehmen einfach an, dass der Angeklagte die Tat begangen hat und verurteilen ihn, bis wir eines Besseren belehrt werden. Mit der Annahme kommen wir gut weiter.
Genauso könnten die Verteidiger argumentieren: Wir nehmen kurzer Hand an, dass der Angeklagte die Tat nicht begangen hat, und verurteilen ihn nicht, was übrigens das Unschuldsprinzip ist, bis wir eines Besseren belehrt werden. Das könnte beispielsweise ein weiterer Mord sein.
Zurück zum Tisch: Ein Skeptiker kann genauso gut argumentieren, wie der Verteidiger. Wir nehmen an, dass wir den Tisch nicht erkennen, wie er ist, solange wir nicht eines Besseren belehrt werden. Können Sie mir denn erklären, warum der hypothetische Realismus dem angedeuteten Skeptizismus vorzuziehen ist?“
Das gefiel Maxim, das waren Aussagen, mit denen im Kopf gespielt werden konnte: „Ihre Analogie zur Juristerei erläutert das Problem. Sie haben Recht, dass der vorgestellte Ansatz keine Lösung des Problems ist. Wir haben auch keine. Nur so müssen wir nicht täglich verzweifeln. Der naive Realismus, wie wir ihn täglich leben, geht davon aus, dass wir die Dinge wahrnehmen, wie sie sind. Wenn wir sagen, dass unsere Wahrnehmung sich am hypothetischen Realismus orientiert, soll im Kern nur gesagt werden, dass wir uns der Tatsache bewusst sind, dass das, was wir erkennen, nicht garantiert eine Eigenschaft der jeweiligen Wirklichkeit ist. Wir Realisten sind immer auf der Hut vor Sinnestäuschungen.
Als Skeptizisten, die alles und jedes bezweifeln, bekämen wir kaum was zu essen. Da kommt von hinten der pragmatische Gedanke ins Spiel.
Und: In Ihrem Beispiel würde ich den Angeklagten verurteilen, damit nicht ich morgen im Grab liege.“
Daphne war erstaunt. Ihr Gegenüber schaffte mehr als drei Sätze. Sie warf ein:
„Über Letzteres könnte trefflich gestritten werden!“
Maxim fuhr fort: „Als Naturwissenschaftler, wenn ich diesen alten Begriff benutzen darf, haben wir folgende Aussagen immer im Kopf: Wer misst, misst Mist! Und: Wer denkt, er denkt, der denkt nur, dass er denkt.
Im Kern: Mit den besten Methoden der Physik kommt der Mensch der Wirklichkeit nicht näher. Da hilft kein Messgerät, das wir ablesen können. Es bleibt der Mensch das schwächste Glied in der Kette der Erkenntnis von Wirklichkeit.
Ergänzend ist zu erwähnen, dass es in der Quantenphysik Phänomene gibt, wo erst durch das Wahrnehmen eines Objektes der Zustand des Objektes festgeschrieben wird.
In die Juristerei übertragen bedeutet das: Wenn ein Mensch auf die Anklagebank gesetzt wird, erzeugt dieses Setzen schon fast die Tatsache, dass er schuldig ist. Weil das aber nicht rechtens sein kann, wird dann das Unschuldsprinzip auf den Tisch gelegt. Nur kann gefragt werden, was psychologisch das größere Argument ist.“
‚Das war es‘, dachte Maxim. ‚Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.‘
Daphne fasste zusammen: „Eine überzeugende Lösung für das Wahrnehmungsproblem gibt es nicht. Die Kantsche Grundfrage ‚Was kann ich wissen?‘39 bleibt im Kern unbeantwortet. Es bleibt also, mit der täglichen Wahrnehmung zurückhaltend, hinterfragend umzugehen.