Tot am Ring. Wolfgang Wiesmann
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Tot am Ring
Wolfgang Wiesmann
© 2020 OCM GmbH, Dortmund
Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund
Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de
ISBN 978-3-942672-78-8
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1 Anständig
Montag Morgen an der Albert-Schweitzer-Gesamtschule in Haltern am See
„Superfluous“, betonte Ute Leitz mit einer Körperhaltung, die, vor allem durch die leicht nach oben geneigte Kinnpartie, an Hingabe nichts zu wünschen übrig ließ. Als wäre es eine Freude, die Vokabel aus ihrem Mund zu picken und für ewig sein eigen zu nennen.
Umgangssprachlich hatte das Wort so gut wie keine Relevanz und war so überflüssig wie seine Übersetzung bereits sagte. Die Doppelstunde Englisch nach der großen Pause war die beste Lernzeit und Utes Ehrgeiz, Schüler für die englische Sprache zu begeistern, kannte noch keine Grenzen. Sie war 27 Jahre alt und hatte erst zu Beginn des Schuljahres ihren Dienst an der Albert-Schweitzer-Gesamtschule in Haltern am See angetreten. Im Laufe der Jahre wurde der anglistische Fachbereich durch alters- und krankheitsbedingte Ausfälle so stark reduziert, dass Schulleiter Kühne den Notstand ausrief und die Bezirksregierung wachrüttelte.
Im Grunde hatte ihn das ewige Gemecker der Eltern aufgescheucht, denn eigentlich befand er sich gedanklich bereits im Ruhestand. Nur dieses eine letzte Jahr, dann würde er endlich auf Hawaii Hula Hula tanzen und im Regenwald die besten Fotos seines Lebens schießen. Ob ihm seine Frau einen Strich durch die Rechnung machen würde, stand noch zur Debatte.
Kühne hatte die Neue in alle sechs Klassen geschickt, in denen der Unterrichtsausfall im Fach Englisch zu eklatanten Rückständen geführt hatte. Im Prinzip ging es um den lieben Frieden mit den Eltern. ‚Ruhig stellen‘ nannte er seinen inneren Marschbefehl, wenn Eltern auftauchten.
„Superfluous“, ließ Ute Leitz ein zweites Mal durch die Klasse geistern und erst dann schrieb sie einen Satz an die Tafel, in dem das Wort vorkam. „Guess its meaning“, forderte sie die gelangweilten Schüler auf und hörte „überflüssig“ von der in der ersten Reihe sitzenden Vanessa, die als wandelndes Wörterbuch verschrien war. „Nicht in die Klasse rufen“, mahnte Ute und korrigierte: „Lift your hand, if you want to make a contribution.“ Einsprachig hieß seit 30 Jahren das Zauberwort für den Fremdsprachenunterricht und wer wollte heute schon sagen, dass es eine bessere Alternative gab. Leider waren auch nach neun Jahren die verbalen Kenntnisse dürftig und das Schriftliche Makulatur. Kühne musste das nicht verantworten. Solange die Noten stimmten, war alles in Butter.
Ute ließ den Satz vorlesen und die neue Vokabel im Chor aufsagen. Dann wurden die Hefte aufgeschlagen und die Vokabelliste von der Tafel ins Heft übertragen. Endlich hatte Ute Zeit und Gelegenheit einen Blick auf Elmar, den neuen Referendar, zu werfen. Er saß hinten im Klassenraum, Arme und Beine verschränkt, mit rötlicher Gesichtshaut. Im nächsten Schuljahr sollte auch er dort vorne stehen, falls er sein über alles gefürchtetes Examen schaffte. Auf seinem Schoß lag ein Notizblock, falls er neue Ideen zur Unterrichtsplanung aufschnappen würde oder Frau Leitz ihn mit geistreichen Tipps für den nächsten Unterrichtsbesuch beglückte.
Elmar Kipping hatte Physik und Englisch studiert und stand kurz vor dem 2. Staatsexamen. Er hospitierte bei Ute Leitz in der neunten Klasse im Fach Englisch. In wenigen Tagen stand ein Unterrichtsbesuch mit Hauptseminarleiter und didaktischem Fachleiter an. Die gestandenen Pädagogen saßen hinten im Klassenraum und begutachteten Elmars Kunst des Unterrichtens. Im Anschluss würde die 30-seitige Abhandlung seines Unterrichtsentwurfs auseinander und der Kandidat in die Mangel genommen werden, was nicht selten mit schlaflosen Nächten endete. Mit haarspalterischer und kleinkrämerischer Kritik wurde der zukünftige Lehrer demoralisiert. Es wurde gemäkelt und gedemütigt – alles zum Wohle des Schülers und zur Bestätigung des Besserwissertums der Gutachter.
Elmar kratzte sich den Handrücken, denn seine Neurodermitis brach vor diesen Unterrichtsbesuchen aus wie ein Vulkan. Das am Morgen aufgetragene Kortison landete im Laufe des Vormittags erst unter seinen Fingernägeln und später in seinem Magen, da er die Angewohnheit hatte, diese in stressigen Situationen abzukauen.
Mit 36 Jahren war Elmar unter den Referendaren der Senior. Er sah sich selbst als Spätzünder, was er unumwunden zugab. Der Name war wohl so eine Art Mitgift seiner Eltern, die ihm dieses Stigma auferlegt hatten. Er trug es mit Würde, denn er fand nichts Schlechtes dabei, ein Spätzünder zu sein, weil er im Zuge seiner Lebenserfahrung etlichen Männern und auch Frauen begegnet war, die seiner Meinung nach gar keine Entwicklung mehr durchmachten. Sie waren regelrecht fertig, im wahrsten Sinne des Wortes.
Elmar hatte den Blick von Ute Leitz erwidert und mit einem Schmunzeln bedient, obwohl ihm nicht danach zumute war. Ute würde gleich bei einem Kaffee im Lehrerzimmer ausgiebig seine Fragen beantworten. Beim letzten Gespräch hatte sie ein Treffen in einem Café vorgeschlagen, um mit ihm den Unterrichtsentwurf durchzusprechen, doch Elmar hatte mit einer guten Ausrede abgelehnt. Seine aufblühende Neurodermitis war nicht die einzige verflixte Nebenerscheinung seines irritierten Nervensystems, sondern auch seine gesunkene Libido. An Sex war nicht zu denken. Aber Ute traute er Sex zu, und wenn er erst ausgebildeter Lehrer sein würde, bekäme auch der Sex wieder seinen gebührenden Platz.
Im Grunde war Elmar ein Abenteurer im Stillen. Ihn beseelte die Gabe der fantasievollen Vision und Ute mochte Männer, die mit kühnen Projektionen die Langeweile vertrieben. Stolz hatte er ihr gegenüber behauptet, dass er wisse, nein, dass er sich absolut sicher war, ein guter Lehrer zu werden, aber die greisen Fachidioten seine kreative Schaffenskraft boykottierten. Ute mochte Träumer, denn die waren im Bett zuverlässiger und einfühlsamer als die kantigen Sprücheklopfer. Wenn es allerdings um den einen echten Mann ihres Lebens ginge, müsste dieser drei Kinder haben wollen. Sie würde das Gebären übernehmen und er die ersten Jahre bis zum Kindergarten. Das hatte sie im Stillen mit sich ausgemacht. Elmar hatte sie dabei in die engere Wahl gezogen, aber vorher musste er sich noch als tauglich erweisen. Ein Lehrerehepaar, das wäre ihr Traum. Die vielen Ferien, doppeltes Gehalt, nachmittags frei für die eigenen Kinder und keine Sorgen um den Arbeitsplatz. Das würde sie glücklich machen, von der fetten Pension ganz zu schweigen.
Elmar jedenfalls hing an ihren Lippen, damit ihm beim Endspurt zum 2. Staatsexamen nicht die Luft ausging. Auf dem Weg ins Lehrerzimmer bewegte ihn eine Frage.
„Wieso hast du sie das Wort ‚superfluous‘ lernen lassen? Das ist doch so gut wie tot.“
„Nimm’s nicht so genau. Ich hatte Lust darauf. Es lag mir auf der Zunge. Deswegen. Später, ich meine, wenn du selbst in der Klasse stehst, machst du eigentlich, was du willst. Du musst nicht streng nach Lehrbuch vorgehen.