Fünf Minuten vor Mitternacht. Celina Weithaas
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„Hat Euer Vater Euch eine Besitzurkunde ausgestellt?“ Skeptisch sehe ich in die aufgeregten Augen des Kindermädchens. Es wäre um einiges naheliegender, dass er mir diese heute persönlich übergibt. Nicht zu vernachlässigen ist die Tatsache, dass mein Vater selbst aus der Hand der angesehensten Antiquare niemals ein rissiges Dokument akzeptieren würde. Es gehört kopiert, beglaubigt und das Original wohltemperiert aufbewahrt. Nie im Leben würde mein Vater, der wahrscheinlich mächtigste Mann der Welt, es nur in Betracht ziehen, etwas so Wertvolles wie ein Originaldokument in einem einfachen Umschlag zu verstauen und dem Butler anzuvertrauen. Nicht einmal für wenige Schritte. Angestellte sind lediglich solange vertrauenswürdig, wie man sie sehen kann. „Es ist der Brief eines Freundes“, erwidere ich kühl. So viel konnte ich dem Geschreibsel der letzten fünf Male bereits entnehmen. Das einzige Problem dabei? Besagtem Freund bin ich nie begegnet, habe nie von ihm gehört. Meine Berater haben Nachforschungen angestellt, um einen Stalker auszuschließen. Die geschwollenen Formulierungen wurden durch Datenbanken gejagt, die Schrift verglichen. Niemand scheint das Äquivalent zu dem geheimnisvollen Briefautor zu sein, auf den ich liebend gern verzichten würde. Das gelbliche Licht der kleinen Lampe über mir malt einen schimmernden Kreis auf das vergilbte Papier. Abschätzig betrachte ich die einzelnen Worte und Sätze. Kein Wunder. Für mich ist diese Handschrift nicht individuell, sondern desaströs. Man muss sie beinahe als gänzlich unleserlich einstufen. Mein selbsternannter, guter Freund besitzt weder den Anstand mit einem existenten Namen, noch mit einem Pseudonym zu unterzeichnen. Alles was er hervorbringt ist ein lächerliches A. A wie der Anfang des Alphabets? Wie ein Vorname? Der Nachname? Es wird meinen Beratern und der Security überlassen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Für mich gibt es weit bedeutendere Fakten zu durchdenken. Wie gelingt es mir, die nächste, gute Schlagzeile zu erhaschen? Wenn die russischen Oligarchen meiner Einladung gefolgt sind, werden sie ausreichend Alkohol zu sich nehmen, um meine Entwürfe prompt zu unterschreiben? „Welcher Freund, wenn es mir erlaubt ist zu fragen?“ Mit den Kuppen streichle ich über die Oberfläche des Briefs. Am linken Rand ist ein kleiner Wachstropfen zu finden, eingebrannt und rissig auf dem staubigen Dokument. Ich habe das Alter bestimmen lassen. Fünfhundert Jahre. Man machte mich darauf aufmerksam, dass die Existenz dieser Briefe unmöglich sei. Zum einen wurde vor einem halben Millennium eine andere Schriftart verwendet, zum anderen weicht der damalige Wortschatz doch sehr von dem heutigen ab. In diesen Briefen bleibt jeder Satz gut verständlich und nachvollziehbar. Eine Sprachbarriere ist nicht vorhanden. Meines Erachtens nach eine passionierte Fälschung.
„Ich will nicht darüber reden.“ Damit ist das Gespräch beendet. Mein Kindermädchen neigt leicht den Kopf. Das Getratsche, das sie in wenigen Stunden anstoßen wird, glaube ich bereits hören zu können. Die junge Clark-Tochter verheimlicht einen mysteriösen Liebhaber. Er schreibt ihr Briefe. Wie außerordentlich romantisch. Sie verbrennt sie, sobald sich die Möglichkeit ergibt und befiehlt sowohl den Beratern als auch der Security zu schweigen, wenn ihnen ihre Anstellung lieb ist. Damit ihre Eltern die Zeilen nicht finden? Ob sich die beiden unglücklich Verliebten wohl treffen? Und wo? Ist er ebenso gutaussehend wie Mademoiselle selbst? Kommt er aus gutem Hause?
Ich sehe bereits die zusammengesteckten Köpfe und die aufgeregt funkelnden Augen vor mir, während sich das lächerliche Gerücht zwischen all jenen verbreitet, die für mich die niedersten Arbeiten verrichten. Dabei findet sich nichts Romantisches an diesen Briefen. An Vieles aus ihnen kann ich mich kaum erinnern – es ist faszinierend, wie belanglos und zusammenhangslos man einen Inhalt gestalten kann – der erste Satz des ersten Briefes aber, den ich erhielt, hat sich mit Leichtigkeit in mein Gedächtnis gebrannt. „Wenn du das liest, so mag der Tod mich längst geholt haben.“ Ich bin versucht das zu glauben. Die Tinte auf dem Papier wurde als ebenso alt wie der Brief selbst bestimmt. Der Ausdruck ist zu tragend, zu gehoben, zu überholt. Die Rechtschreibung des mysteriösen Freundes eine kleine Katastrophe. Der selbsternannte Historiker unter meinen Beratern amüsiert sich über dieses Detail göttlich. Als versuche jemand die heutige Sprache mit der damaligen zu verbinden. Mir ist gleichgültig, aus welchem Grund der Verfasser schreibt, wie er es tut. Interessieren werden mich diese Briefe erst, wenn die simpelsten Regeln der Orthographie befolgt wurden. Ein Projekt für die nächsten fünfhundert Jahre.
Der Wagen biegt von der Ausfahrt auf die Straße, verzerrte Lichter der Nacht zeichnen sich vor den getönten Scheiben ab. Hinter uns verschwimmt das helle Herrenhaus im Unwetter. Ich beuge mich näher über den Brief, um ihn entziffern zu können. Die Anrede fehlt, so wie jedes Mal, ebenso die Unterschrift. Es sind hastig auf Papier geschmierte Worte. Tagebucheinträge würde ich behaupten, wären die Ränder eingerissen, als hätte man den Bogen aus einem Heft herausgetrennt. Unglücklich, dass der unversehrt ist.
„Der Mond treibt mich zur Turmuhr. Oh schlüge sie die Stund, oh kämest du, mein Engel, hinab vom Himmel dort, zu sehen meine Leiden. Mit Inbrunst erwarte ich nur dich, mein Liebstes, deine Wiederkehr im schummrigen Klang des blütenweißen Schnees, der deine Schultern küsst und mich verzehrt. Die Uhr schlägt zwölf, doch Leid und Angst, nicht dein Antlitz mir entgegenstrahlt. Kanonendonner von nah und fern, erinnert an des Todes Stern. Vergaßt du mich, der Zeiten Wunder, so fällt mein Herz in Trümmern nieder. Ach, schon Knallen die Musketen. Weh, bald sterben sie dahin. Mein Engel dort, wo bliebest du? Fern von der Turmuhr, das bist du.“
„Es wirkt sehr alt“, stellt das Zimmermädchen fest, als ich den Brief zusammenfalte, in dem Umschlag verschwinden lasse und in meinem Dekolleté verstaue. Ich werfe ihr einen vernichtenden Blick zu. Ich habe ihr nicht die Erlaubnis erteilt, meine Post mitverfolgen zu dürfen. Wäre der Abend weniger prestigelastig, ließe ich sie längst auf offener Straße zurück. Diese Angestellte ist eine himmelschreiende Beleidigung. Mein altes Kindermädchen sollte ich verklagen, dafür, dass sie mir diese Katastrophe aufgehalst hat. „Vielleicht”, sinniert das Kindermädchen, „ist es das Werk von jemandem, der seinen Verstand nicht mehr beisammen hat.“ Die Ampel schaltet auf grün und das Licht fängt sich in meinem Collier, dessen Wert ich nicht zu schätzen wage. Meine liebe Mutter schenkte es mir zu meinem heutigen Geburtstag, stolz darauf, dass ich nun endlich Seite an Seite mit ihr über den einzigen Ort regieren werde, an dem sie und Vater sich zu Hause fühlen: die Börse. Sie sind König und Königin über die Kurse, scheinen sie im Voraus zu kennen, und wissen genau, in was es sich zu investieren lohnt. Selbst wenn das weißgoldene Collier mit den perfekt geschliffenen, strahlenden Diamanten ebenso unbezahlbar ist, wie ich es erwarte, wäre es dennoch nichts weiter als eine neue, nette Aufmerksamkeit. Was ist schon unbezahlbar, wenn man über nahezu jeden Cent auf diesem Planeten verfügt? Menschen, die meinen Eltern das erste Mal begegnen, sind davon überzeugt, dass sie die mächtigsten, reichsten und feinsten Persönlichkeiten sind, die existieren. Mir bleibt nichts anderes übrig, als das zu belächeln. Mächtig, durchaus, reich, ohne Frage. Aber wären sie fein, wären sie ebenso arm wie die Bettler, die des Nachts aus ihren Löchern hervorkriechen und versuchen, den tatkräftigen Menschen das letzte Geld aus den Taschen zu stehlen. Wären meine Eltern fein, würden sie sich in Bescheidenheit üben. Aber wer will schon bescheiden sein, wenn er mächtig sein kann? Sie lassen ihre ungeteilte Macht jeden einzelnen Investor spüren, jeden Handelspartner, der sie nicht gänzlich überzeugt. Letzten Endes speisen sie jedermann ab, der sich zu lange mit ihnen umgab, beuten aus, wer tatsächlich glaubte, er könnte sich mit ihnen messen. Das ist der Grundstein des ungeteilten Reichtums: Skrupellosigkeit. Ich beherrsche es ebenso, dieses Fundament zu legen wie meine geliebten Eltern. Sie haben mir früh beigebracht, wie man Geschäfte gewinnt. Wie man sie definiert und wie sie wachsen. Beherrschte ich diese Kunst nicht, wäre ich nicht die Tochter meiner Eltern und hätte nicht die Ehre, ein Collier zu tragen, von dem all die Mädchen, die geistlos in ihren Kinderzimmern sitzen und sich die Haare kämmen, nicht einmal träumen können. „Denkt Ihr, es handelt sich um einen Stalker?“ Die Angestellte klingt ernsthaft besorgt. Ich rolle die Augen und versuche durch die verschwommenen Lichter und den prasselnden Regen auszumachen, wo wir uns befinden. Das Wasser nimmt mir die Sicht. Es schwimmt die Scheiben hinab und vermischt sich in einem überdrehten Farbenregen mit den Werbetafeln und Ampeln. Das Mädchen wird mir