Fünf Minuten vor Mitternacht. Celina Weithaas
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas страница 9
Achim schlingt die Arme um mich und sieht mir tief in die Augen. Süße Sekunden vergehen. Dann endlich küsst er mich. Eine glückliche, überwältigte Wärme wallt in meinem Herzen auf, während seine Finger von meinem Hals über die Wangen, bis hinein in mein Haar wandern. Alles an Achim wirkt beherrscht, bis in die letzte Berührung, egal zu welcher Tageszeit.
Zum einen bewundere ich ihn für diese Kontrolle, zum anderen verfluche ich ihn dafür. Was würde ich dafür geben, zumindest ihm gegenüber den Anstand fallenlassen zu dürfen? Während seine Lippen über meinen Kiefer wandern, blitzt eine verrückte Idee in meinem nebligen Verstand auf, die mit Sicherheit dem Champagner geschuldet ist. „Lass uns in die Stadt gehen“, flüstere ich. Achim lässt von mir ab und sieht mich befremdet mit gerunzelter Stirn an. „Es ist mitten in der Nacht. Man würde uns erkennen.“ „Ich ziehe eines der alten Kleider an und binde mir die Haare zu einem Pferdeschwanz. Komm schon.“ Ich zupfe wie ein kleines Kind an seinem Hemdsärmel. „Es wäre so schön. Wann hatten wir das letzte Mal richtig Zeit für uns? Gemeinsam”, ich lehne mich an ihn, „allein in einer ganz gewöhnlichen Bar oder auf einer Parkbank.“ Die Antwort kommt mir schneller in den Sinn, als Achim reagieren kann. Noch nie. Nicht ein einziges Mal. Diese Erkenntnis erschreckt mich. Sie wirkt unmöglich. Aber so oft ich jeden einzelnen Moment mit Achim abspule, jede unserer gezählten Stunden drehe und wende, bleibt am Ende nicht als Professionalität und gestohlene Küsse übrig. Eine bitterschmeckende Erkenntnis, die sich selbst durch unsere Verlobungsfeier zog. „Du hast zu viel getrunken“, murmelt Achim und zieht mir, ebenso wie Mutter noch zuvor, die Haarnadeln aus der Frisur, eine nach der anderen. Er legt sie sorgfältig auf den hellen Nachttisch neben meinem Bett, reiht sie nach Länge sortiert auf. Die glänzenden, goldenen Spitzen erinnern an Dolche, besetzt mit den schönsten Saphiren und Smaragden, die man finden konnte. Mutter behauptet felsenfest, dass sie meine Augen zur Geltung bringen. Meiner Meinung nach lässt dieser Schmuck nicht nur sie erstrahlen. Auch meinen blassen Teint, die von Natur aus dunkelrote Farbe meiner Lippen und das helle Rosa in meinen Wangen erhält durch diese Steine neue, anbetungswürdige Nuancen. „Weil ich Zeit mit dir verbringen möchte?“, jammere ich. Achim schüttelt den Kopf. Eine neue Locke fällt mir auf die Schultern, kitzelt mich leicht im Nacken, so angenehm und atemberaubend nach Pfefferminze duftend wie sonst nur die Pflanze selbst. „Weil du sprichst wie ein kleines Mädchen.” Energisch löst er eine verirrte Strähne. „Erwachsene Menschen stehen für ihre Pflichten zu jeder Zeit hundertprozentig ein. Besäufnisse zwischen Proleten passen nicht zu deinem Leben.“ Ich seufze schwer und suche Achims Blick. Diese stechend blauen Augen. „Es ist mein Geburtstag”, erinnere ich Achim sacht. „Kann man nicht wenigstens heute etwas Verrücktes mit mir unternehmen? Einmal.” Ich bettle. Erniedrigend. Heute ist mir jedes Mittel recht. „Es ist sozusagen meine letzte Gelegenheit“, versuche ich den Leichtsinn vor mir selbst zu rechtfertigen. Achim nimmt mein Gesicht in beide Hände und sieht mir mit einem schiefen Lächeln in die Augen. „Chrona, du bist das reichste und schönste Mädchen dieser Welt. Du wirst niemals die Chance dazu haben, solche Absurditäten zu vollziehen. Genieße das, was du hast. Jede Frau beneidet dich darum.“ Das ist wahr. Egal ob um mein hübsches Gesicht, die vollen Haare, die leuchtenden Augen, das Geld, meinen Verlobten, den Ruhm oder die feine Gesellschaft. Anders als für gewöhnlich erfüllt mich dieser Gedanke nicht mit Stolz. Der Wunsch, dieses Gebäude zu verlassen, nimmt Dimensionen an, die ich nicht in Worte fassen kann. Die frische Nachtluft riechen, mit Achim, nur für ein paar gestohlene Stunden. Das erste Mal in meinem Leben möchte ich so tun, als müsste ich morgen früh nicht mit tadellos gefalteten Händen an dem nächsten Tisch sitzen und jedes Wort auf die Waagschale legen. Dieser Wunsch ist mir so fremd wie die nächtlichen Straßen der Stadt von Nahem. Aber… er lässt mich nicht mehr los. „Bitte.“ Mehr bringe ich nicht über die Lippen, flehe mit jeder Faser in mir, dass Achim nur heute Abend sein Pflichtbewusstsein für wenige Stunden vergisst. Achim antwortet nicht. Stattdessen fährt er damit fort, meine Frisur zu lösen. „Wo sind deine Zimmermädchen?“, fragt er mich sachlich. Ich unterdrücke ein schweres Seufzen. Das Thema ist vom Tisch. „Unten. Ich habe sie darum gebeten, sich zu vergnügen, bis es für mich Zeit wird, ins Bett zu gehen.“ „Wo sind sie jetzt?”, wiederholt Achim kühl. Wir sitzen in meinem Zimmer. Seine Missbilligung kann ich in Maßen nachvollziehen. „Du brauchst jemanden, der dir das Kleid aufknöpft und dir die Haare auskämmt.“ Ich halte Achims Finger fest, als er eine der letzten Haarnadeln auf den Nachttisch legt. „Warum hilfst du mir nicht mit meinem Kleid?” Fremde Worte eines sinnlosen Wagemuts. „Ich möchte niemanden mehr sehen außer dir.“ Die redenden Menschen haben mich erschöpft. Ihre Gratulationen, die Begeisterung. Achim verzieht missbilligend den Mund. „Du benimmst dich unangebracht.“ Ich zucke die Schultern. „Na und? Wir sind allein. Niemand wird jemals davon erfahren, wenn du mein Kleid aufknöpfst oder wir nach draußen verschwinden. Ich muss nicht einmal etwas mit dir trinken. Lass uns nur spazieren gehen. Allein.“ Irgendwo, wo niemand Zugriff auf uns hat. Wo wir Wir sein dürfen, bevor wir zurück in das Leben schlüpfen, das ich so sehr liebe. „Der Alkohol ist dir zu Kopf gestiegen. Es ist gefährlich für dich, ohne Leibwächter das Gebäude zu verlassen. Erinnerst du dich an den Vorfall von vor zwei Monaten?“ An den wahnsinnigen Mann, der sich mit seiner Kamera auf mich stürzte und mir um ein Haar die Jacke zerrissen hätte. Ich presse die Lippen fest aufeinander, fühle mich von meinem Verlobten gescholten wie ein kleines Kind. Natürlich verstehe ich seinen Standpunkt und würde ihn zu jeder Zeit ebenso vertreten wie er. Nur jetzt nicht. Alles in mir brüllt danach, hinaus zu rennen und sei es in diesem Kleid. Der Regen prasselt noch immer gegen den Tower, lässt sich in langen Schlieren an den Fenstern hinuntergleiten, fängt mit jedem Tropfen eine neue Facette des Nachtlebens auf. Die Unvernunft hat mich gepackt. Nie wieder trinke ich so viel um diese Uhrzeit. Der Alkohol verdreht meine Sinne, bis ich zu jemandem werde, der ich nicht sein will.
Nicht sein darf. Schweigend warte ich, bis Achim die letzten Nadeln gelöst hat und sich an die Knöpfe macht. Es ist ein beachtlicher Vorstoß. Wäre es den Reportern möglich, mein Apartment zu betreten, sie würden sich die Mäuler zerreißen. Aber sie kommen hier nicht hinein. Wir sind in Sicherheit. Das weiß Achim auch. Er streicht mir die Haare über die Schulter, um besser an die zahlreichen Knöpfe zu gelangen. „Das sind hunderte“, stellt Achim nüchtern fest und löst sie. Einen nach dem anderen. Seine Fingerspitzen hinterlassen eine kribbelnde Feuerspur auf meiner bloßen Haut. Ich nicke. „Es hat auch lange gedauert, bis ich fertig war für diesen Abend.“ Allein das Ankleiden nahm eine Stunde in Anspruch. Von den Haaren und dem Make-Up ganz zu schweigen. Die Fingernägel, die perfekte Schmuckauswahl zu dem Collier, die passenden Schuhe. Wie soll der Rock optimal fallen? Passt die Farbe des Lippenstifts zu den Nägeln und diese zu den Diamanten? Wie setzt man meinen Verlobungsring am besten in Szene, ohne ihn penetrant hervorzuheben? Achim drückt mir einen zarten Kuss in den Nacken. „Du siehst bezaubernd aus und genau aus diesem Grund widerstrebt es mir, dich auf die Straße zu lassen. Wir können auch hier Spaß haben.“ Vermutlich. Aber hier duftet es nach teurem Parfum und das warme Licht spiegelt sich in den Kristallen des Kronleuchters, wirft tausend helle Facetten auf das edle Mobiliar. Gerade jetzt möchte ich nicht über den Wolken schweben. Ich wünsche mir Standfestigkeit und die bekomme ich nur auf dem nassen Asphalt. Soll der Regen doch meine Haare durchweichen und meine Schminke verlaufen lassen. Soll er das Kleid wie eine zweite Haut an meinen Körper kleben. „Ich wünsche es mir so sehr“, wispere ich und sehe aus dem Fenster. Die Tropfen zerspringen fröhlich auf dem gepflegten Glas. Gelbe, grüne, orange Tupfen huschen darüber, nur um mit dem nächsten Wimpernschlag zu verschwinden. „Eine halbe Stunde. Ich flehe dich an, Achim.“ Er schüttelt den Kopf. „Das kann ich nicht verantworten.“ Sanft küsst er mich. Noch immer beherrscht. Der Alkohol löst jede Hemmschwelle ins Nichts auf und ich danke im Geiste Mutter dafür, dass sie mir die letzten Stunden erlassen hat. Etwas muss in meinem Glas gewesen sein.