Der ganzheitliche Ansatz in der Stimmbildung. Sassy Bernert
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Wie viele Menschen den Bezug zu sich und ihrem Körper verloren haben, erlebe ich bei meiner Arbeit mit Stimmen immer wieder. Der Gesangsunterricht deckt auf, was sich an Ungleichgewicht und Imbalance in einem Menschen gebildet hat.
Wenn wir auf die körperliche Ebene blicken, ist beispielsweise selbst die Körperhaltung häufig instabil und haltlos. Für viele fühlt es sich aber normal an, weil sie es gewöhnt sind. Was sich wie Kraft anfühlt, ist meist Steifheit. Genauso viele Menschen stehen, laufen und sitzen überwiegend schief, doch es fühlt sich für sie, weil gewohnt, normal an. Singen erfordert Stabilität. Singen erfordert Stand. Singen erfordert Kraft. Singen erfordert Balance. Singen erfordert Gefühl. Auf allen Ebenen. – Das kann man lernen. An erster Stelle steht jedoch noch etwas anderes: die natürliche Singlust, die Freude und der Spaß am Umgang mit der eigenen Stimme!
Halten Sie Ihr inneres Feuer für den Gesang entfacht.
Beim Erlernen von Gesang blicken wir auf uns selbst. Wo soll die Kraft herkommen, wenn nicht aus uns? Wie sollen uns andere verstehen, wenn wir es nicht tun? Wie können wir andere berühren, wenn wir uns nicht berühren können und möchten? Wie können wir uns den Blicken anderer aussetzen, wenn wir uns selbst nicht anschauen möchten?
Für Stimmbegeisterte und Singende ergibt sich die großartige Chance, durch die Arbeit mit der Stimme die Selbstwahrnehmung und das echte Selbstbewusstsein enorm zu vertiefen und zu stärken – oder aufzubauen. Nur ein gut gestimmtes Gesamtinstrument kann in vollem Umfang klingen und schwingen. Den liebevollen und ehrlichen Blick auf uns zu richten ist es, was uns letztendlich Flügel verleiht. Unsere Eigenverantwortung wird angesprochen. Trauen Sie sich hinzuschauen, hinzuhören und hinzuspüren!
Werden ungünstige Muster entlarvt und abgelegt, werden neue Kräfte in uns freigesetzt und echte Entwicklung kann stattfinden.
Passiert das nicht, wird das, was bereinigt werden müsste, häufig ganz einfach durch andere, meist ungünstigere Komponenten ersetzt. Dadurch können Ungleichgewicht und ein Verhaltensmuster entstehen, das sich meist auch in unserem Leben so fortführt.
Die meisten (Wett-)Kämpfe wüten alleine in uns und wurden von uns selbst angezettelt. Mit ihnen sollten wir unseren Frieden machen.
Auch das Bedürfnis perfekt zu sein, etwas perfekt machen zu wollen begegnet mir in der Praxis sehr häufig. Doch der übertriebene, oft unmenschlich hohe Anspruch an sich selbst, keine Fehler machen zu wollen, behindert die Entwicklung und hinterlässt die Betroffenen teilweise blockiert und unproduktiv.
Perfektion, was immer das für den Einzelnen bedeutet, kann durchaus auch ein Vorwand sein, um gar nicht erst ins Handeln kommen zu müssen. Ein übermenschlich hoher Anspruch, der niemals erfüllt werden kann, wird dann als Ausrede benutzt, einfach untätig zu verharren. Perfektionismus hat viele Gesichter. Damit aus der Singlust kein Frust wird, sind die Maßstäbe anders zu setzen.
Können darf nicht erwartet werden, man muss es sich erarbeiten.
Als sehr hilfreich hat sich beispielsweise das Erfinden eines neuen, stimmigen Selbstbildes erwiesen.
Auch viele der ganz großen Sänger und Sängerinnen arbeiten ihr Leben lang an und mit sich und ihrer Stimme. Selbstbewusstsein kann man immer vertiefen und Entwicklung endet nie …
Ganz gleich, auf welcher Stufe Sie Gesang betreiben oder betreiben möchten: Wichtig ist die Intention, die Sie als Sänger bzw. Sängerin bewegt.
● Warum möchte ich singen?
● Was möchte ich singen?
● Wie möchte ich singen?
● In welcher Qualität möchte ich singen?
● Was möchte ich leisten?
● Was ist mein stimmliches Ziel?
● Was ist mein gesangliches Ziel?
● Was ist mein musikalisches Ziel?
● Welche Voraussetzungen bringe ich mit?
● Welche Voraussetzungen benötige ich, um mein Ziel zu erreichen?
● Welchen Einsatz bin ich bereit einzubringen, um mein Ziel zu erreichen?
● Wer kann mir bei meinem Weiterkommen weiterhelfen?
Als ich meinen Weg antrat, wusste ich von all dem nichts. Ich dachte, durch den Gesangsunterricht und das Erlernen einer Gesangstechnik würde ich schon lernen, was ich brauche, um eine wohlklingende Gesangsstimme zu bekommen. Hochmusikalisch war ich und fleißig wollte ich sein.
Und so war es: Ich übte in jeder freien Minute und insbesondere das Auto wurde zu meiner persönlichen Übungskabine. Ich übte weit über die Maßen hinaus – doch funktioniert hat es nicht. Ich konnte nicht einmal summen und spürte: Bei mir funktioniert etwas Grundsätzliches nicht. Die Antwort meines Umfeldes lautete immer nur: Gesang zu erlernen dauert nun mal seine Zeit.
Doch es war nicht die Ungeduld, die mich oft verzweifeln ließ, es war die Tatsache, dass grundlegende Dinge im Vergleich zu anderen Sängern nicht funktionierten. Ich hätte alles getan, um herauszufinden, was das war – und das tat ich auch.
Des Rätsels Lösung ist rückblickend so klar wie Anna Netrebkos hohes C: Mein Klang war ein Abbild meiner damaligen Lage und ich erfüllte nicht einmal im Ansatz alle notwendigen Voraussetzungen, um meine Stimme zum Klingen zu bringen. Durch eine langjährige Krankheit und die vielen Ereignisse, die diese mit sich brachte, war ich aus der Balance, wie man es nur sein kann, und zwar auf allen Ebenen, die uns Menschen ausmachen: der körperlichen, der geistigen und der emotionalen Ebene. Auch unsere Haltung zu uns selbst, zum Leben und zu unseren Mitmenschen spielt eine wichtige Rolle. Wo würden Sie selbst sich hier sehen? Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken.
Im späteren Verlauf habe ich mich unter anderem an Größen wie Joyce DiDonato, Sarah Brightman, Cecilia Bartoli oder Luciano Pavarotti orientiert, welche den klassischen Kunstgesang, der wohl höchsten und anspruchsvollsten Disziplin, betreiben. Wunderbare Beispiele gibt es in allen Musikgenres, im Bereich Pop/Rock, Musical- und Heavy Metal sind es für mich beispielsweise Sängerinnen wie Celine Dion, Helene Fischer, Sierra Bogges, und Floor Jansen, die allesamt trotz, oder gerade wegen ihres großen Talents nicht nur eine Gesangsausbildung genossen haben, sondern sich intensiv mit sich und ihren Stimmen auseinandersetzen. Sie sind in meinen Augen Paradebeispiele, was ein Mensch mit enormem Talent durch Fleiß, Ausdauer, Willen, Passion, Leidenschaft, Liebe, Disziplin und vor allem ganz viel Gefühl aus sich machen kann.
Außergewöhnliche Natursänger bringen mehr mit, als nur ihre Stimme: Sie erfüllen viele Voraussetzungen, um so zu klingen und zu singen, wie sie es tun. Und: Sie haben etwas zu sagen. Auf diesen wichtigen Punkt gehen wir später noch genauer ein. Als Beispiel aus dem Bereich Heavy Metal möchte ich den unvergessenen Ronnie James Dio aufführen. Er hatte nie Gesangsunterricht, konnte seine fantastische Naturstimme einfach so einsetzen. Seine unverwechselbare Stimme gehörte zu den größten der Heavy-Metal-Szene. Er nannte den amerikanischen Tenor Mario Lanza als einen seiner ersten Einflüsse,