Sonst brichst du dir das Herz. Susanne Mischke
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Weiter kam sie nicht mit ihren Grübeleien, denn nun lösten sich drei der Jungs aus der Gruppe und schlenderten betont lässig über den Spielplatz und zu Valeria hinüber. Vorneweg ging ein kräftiger, sommersprossiger Teenager, vierzehn oder fünfzehn vielleicht, mit rötlichem Stoppelhaar und einem Kinn wie ein Nussknacker. Die Hände in die Seiten gestützt, baute er sich vor ihr auf. »He, du! Willst du ficken?«
Valeria starrte ihn fassungslos an, und während seine Eskorte in Gelächter ausbrach, wurde ihr bewusst, dass außer ihr und diesen Jungs kein Mensch mehr im Park war. Was jetzt, wie reagieren?
Noch während Valeria fieberhaft überlegte – antworten, und wenn ja, was, oder lieber rasch weglaufen? –, machte der Rothaarige Anstalten, sich neben sie auf die Bank zu setzen. Doch dazu kam es nicht. Ein pfeilförmiger Schatten stürzte vom Himmel herab. Der Rothaarige schrie gellend auf, sein Körper krümmte sich zusammen und er schlug die Hände vor sein Gesicht. Zwischen den Fingern quoll Blut hervor. Noch ein Schrei ertönte, doch der kam dieses Mal aus der Luft: ein lang gezogener Laut, der Valeria sehr vertraut war. Deutlich erkannte sie den Umriss des Falken vor dem rötlichen Stadthimmel. Der Raubvogel schien Spaß an der Sache zu haben, er flog noch einen weiteren Angriff, der sein Opfer ein paar Haarbüschel kostete, ehe er im Schatten einer Baumkrone verschwand und unsichtbar wurde. War das möglich? Nein, das war bestimmt nur ein Falke gewesen, nicht ihr Falke. Und doch hatte er sie verteidigt. Wie ein Freund.
»Scheißvogel, ich blute wie ein Schwein«, brüllte der Verletzte. Er hatte den Rückzug angetreten, gefolgt von seinen Kumpels, die um ihn herumhüpften und mit angewinkelten Armen flatterten. Dazu gackerten sie und grölten vor Lachen, genau wie die drei, die auf der Bank geblieben waren. Ganz klar: Ihr Kumpel war ein Verlierer, ein Schwächling, er verdiente kein Mitleid und keinen Respekt mehr.
Zeit zu gehen. Valeria stand auf und im selben Augenblick sah sie Luisa. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie an der Wegbiegung, genau an der Stelle, an der Valeria sie vor ein paar Tagen aus den Augen verloren hatte. Sie trug ein weißes Kleid, das gegen das Dunkel des Parks anleuchtete.
Valeria eilte auf sie zu. »Warte!«
Aber schon hatte die Gestalt sich wieder umgedreht und folgte dem Weg, der zum Seitenausgang des Parks führte. Ihre Schritte wirkten leicht, fast schwebend, und Valeria hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie sah sie durch das offene Tor gehen und nach links abbiegen. Valeria war das letzte Wegstück gerannt, erreichte das Tor und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Warum hielt dieses Mädchen sie dermaßen zum Narren? Das ganze Elend der letzten Tage und Wochen, bisher mühsam unterdrückt, schien sich nun Bahn zu brechen, Tränen schossen ihr in die Augen. Dann stutzte sie.
Am Straßenrand parkte ein Auto und auf dem Rücksitz saß sie. Ihr Kleid leuchtete wie eine Schneewehe durch Valerias Tränenschleier. Diese wischte sich hastig über die Augen, jeden Moment darauf gefasst, dass die Tür geschlossen und der Wagen losfahren würde. Aber nichts geschah. Wartete das Mädchen auf sie?
Ihr Körper handelte nun von alleine, ging auf den Wagen zu, wie von einem Magneten gezogen. Jetzt waren es nur noch wenige Meter. Man steigt nicht in fremde Autos, flüsterte eine Stimme, irgendwo in ihrem Hinterkopf. Noch dazu ähnelte dieser Wagen jenem, in dem der Mann gekommen war, den Rosa erschossen hatte.
Schwarze Wagen bringen nur Unglück, Finger weg von schwarzen Wagen!
Aber die Tatsache, dass dieses fremde und doch so vertraute Mädchen darin saß, brachte Valerias Warnsystem durcheinander. Im Gegenteil, sie war erfüllt von der Gewissheit, eine andere Welt zu betreten, wenn sie in dieses Auto stieg. Sie konnte es nicht anders benennen und sie hätte es auch nicht erklären können. Sie spürte nur, dass sie gerade dabei war, die wichtigste Entscheidung ihres Lebens zu treffen. Also stieg sie ein und setzte sich neben das Mädchen im weißen Kleid. So nah war sie ihr jetzt, dass sie ihren Duft wahrnehmen konnte. Er war seltsam vertraut. Woher kannte sie diesen Duft nur? Von Rosa. Rosas Seife, die die verrückte Ersilia ihr immer mitbrachte, roch genauso, nach Orangen und Bergamotte. Noch während Valeria über diesen seltsamen Umstand nachdachte, sagte das Mädchen: »Da bist du ja. Wurde auch Zeit.« Sie streckte sich nach vorn und sagte, an den Fahrer gewandt: »Was ist, Claudio, wollen wir hier Wurzeln schlagen?« Ihre Stimme war leise und recht hell, jedoch unterlegt mit einem rauchigen Ton.
Der Angesprochene stieg aus, schloss die Tür auf Valerias Seite, die diese vor lauter Faszination zu schließen vergessen hatte, und setzte sich wieder ans Steuer. Wortlos ließ er den Motor an und fuhr los.
»Ich bin Lucia.«
Lucia. Valeria versuchte vergeblich, sich zu erinnern, wie ihre Schattenschwester zu ihrem Namen gekommen war. Der Name Luisa war einfach da gewesen, so wie Luisa selbst irgendwann einfach da gewesen war. Luisa – Lucia. Wie ähnlich das klang!
Im Halbdunkel des Wagens betrachtete Valeria ihr Gegenüber. Es war, als würde sie sich selbst ansehen in einem Spiegel, dessen Bild ihr nicht gehorchte. Dennoch war Lucia anders als Luisa. Was ja auch gar nicht anders sein konnte. Ihre Schattenschwester Luisa war schließlich nur ein Traumgespinst, ein Geschöpf ihrer Fantasie. Luisa war sozusagen Valerias dunkle Seite, ein Wesen, das stets ausgesprochen hatte, was Valeria kaum zu denken gewagt hatte. Hier dagegen, leibhaftig und lebendig, saß … ihre Doppelgängerin. Ja, so nannte man das wohl. Ein Mädchen aus Fleisch und Blut, das ihr verdammt ähnlich sah. Dennoch hätte Valeria sie am liebsten kurz angefasst, nur um ganz sicher zu sein, dass diese Lucia auch tatsächlich kein Geist war. Man kann ja nie wissen … Stattdessen zwickte sie sich selbst verstohlen in den Arm. Nein, kein Traum.
»Ich bin Valeria.«
Lucia lächelte und Valeria kam es so vor, als hätte Lucia ihren Namen schon gekannt.
Danach sagte keiner mehr etwas, schon gar nicht Valeria, die trotz ihrer Gewissheit, nicht zu träumen, befürchtete, ein einziges falsches Wort könnte den Zauber zerstören und sie würde sich in der nächsten Sekunde wieder in Alessandros Gästezimmerschlauch wiederfinden. So schwiegen alle drei, während sie durch das chaotische Gewirr der Stadt glitten, vorbei am Menschengewimmel auf den Gehwegen und den beleuchteten Fassaden imposanter Gebäude. Die Straßen von Rom, vor denen Valeria sich anfangs so gefürchtet hatte, waren jetzt glitzernde Schnüre, die Hupen und die Polizeisirenen bildeten die Tonspur der pulsierenden Stadt. Etwas sagte Valeria, dass sie gerade die Schwelle zu etwas Großem, Abenteuerlichem überschritten hatte. Sie genoss die Fahrt, obwohl sie sehr gespannt war, wann und wo sie enden würde. Bisweilen fiel ihr Blick auf Claudios konzentriertes Gesicht im Rückspiegel. Markante, männliche Züge, edle Nase, dunkle, schräg geschnittene Augen, die sie für Sekundenbruchteile aufmerksam musterten. Einer dieser eleganten jungen Römer, die Valeria schon häufiger aufgefallen waren.
Sie kamen jetzt schneller voran, es musste eine der mehrspurigen Ringstraßen sein. Valeria hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie fuhren. Ihr Orientierungssinn, der draußen in der Natur hervorragend funktionierte, versagte in der Stadt umso kläglicher. Irgendwann bog Claudio ab, die Reifen rumpelten über Kopfsteinpflaster und schließlich hielt der Wagen vor einem beleuchteten Tor, das in eine hohe Mauer eingelassen war. Claudio drückte auf eine Fernbedienung und die schmiedeeisernen, mit Ornamenten verzierten Flügel glitten lautlos auseinander und wieder zusammen, nachdem der Wagen durchgefahren war. Sie folgten einem gekiesten Weg, der von kleinen Lämpchen markiert wurde. Düstere Zypressen standen Spalier wie Soldaten, Pinien reckten ihre schwarzen Äste in