Sonst brichst du dir das Herz. Susanne Mischke
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Sie stiegen aus und sofort umfing Valeria eine angenehme Frische, ganz anders als in der Stadt, die ihr wie ein großer, schmutziger Backofen vorgekommen war. Es roch nach frisch gemähtem Gras, scharfer Minze und süßem Geißblatt. Eine fächerförmige Treppe führte auf ein breites Portal mit facettierten Glasscheiben zu. Darüber verströmte eine Laterne ein gelbliches Licht, umschwirrt von blass schimmernden Motten.
»Willkommen in der Villa Aurelia!« Lucia griff nach Valerias Hand und zog sie die Stufen hinauf.
Jemand musste ihre Ankunft bemerkt haben, denn die Tür wurde von innen geöffnet und sie betraten die Eingangshalle. Erneut hielt Valeria überwältigt den Atem an. Eine Treppe schwang sich in sanftem Bogen empor, an den Wänden prangten die goldgerahmten Porträts verhalten lächelnder Damen und streng blickender Herren aus vergangenen Epochen. Vor Staunen hätte Valeria beinahe die Person übersehen, die ihnen die Tür aufgemacht hatte und nun flüsterte: »Du lieber Himmel, was ist das denn?«
Ganz genau das hatte Valeria sich auch gerade gedacht. Das junge Mädchen schien einem der Porträts an den Wänden entstiegen zu sein. Der schwere Satin ihres langen, taillierten Kleides changierte je nach Lichteinfall zwischen Violett und Dunkelrot. Es war tief ausgeschnitten. Ein schwarzes Samtband schmiegte sich an ihren Hals, daran hing ein Kreuz aus Messing. Schwierig zu sagen, wie alt sie war, sie konnte achtzehn sein – oder achtundzwanzig. Das dichte schwarze Haar war mit einem eleganten Schwung aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Zopf geflochten, der sich ihr Rückgrat hinabwand. Ihr Teint hatte die Farbe unreifer Oliven und die kräftigen Augenbrauen verliehen dem Gesicht eine gewisse Düsterkeit. War sie das andere Mädchen aus dem Park? Valeria war nicht sicher, zu eigenartig war deren Aufmachung und im Park hatte Valeria fast nur auf Lucia geachtet.
Die runzelte jetzt verärgert die Stirn und sagte streng: »Sie heißt Valeria, wir haben sie schon im Park gesehen. Valeria, das ist meine Cousine Fabiana. Ihre Familie stammt aus Palermo, dort haben sie anscheinend keine Manieren.«
»Danke. Danke vielmals«, zischte Fabiana ihrer Cousine böse zu. Etwas gemäßigter sagte sie: »Guten Abend, Valeria. Entschuldige. Es ist nur …«
Weiter kam sie nicht, denn jetzt schlitterte ein junger Mann wie auf einer Eisbahn über das matt glänzende Marmormosaik quer durch die Halle. Vor Lucia und Valeria blieb er stehen, strich sich eine Locke aus der Stirn und starrte Valeria an, als hätte er eine Marienerscheinung.
»Heilige Scheiße!«
Lucia verdrehte die Augen mit der Miene einer resignierten Lehrerin, deren Schüler wieder einmal alles vergessen hatten, was man ihnen beigebracht hatte. »Valeria – Matteo«, erklärte sie und murmelte etwas von einem ungehobelten Büffel.
Das ließ Matteo nicht auf sich sitzen. Er grinste, ergriff Valerias Hand und hauchte die Andeutung eines Kusses auf deren Handrücken.
Noch während Valeria knallrot anlief, kam Claudio herein und fragte: »Ist noch was zum Essen da?«
Das bauchige Weinglas in der Hand versank Valeria in einer Lawine bunter Seidenkissen. War die Küche, in der sie aufgewärmte Spinatravioli mit Käsesoße und zum Nachtisch Zabaione gegessen hatten, eher nüchtern und praktisch eingerichtet gewesen, so vermittelte der »Salon« den Eindruck leicht angestaubter Grandezza. Hinter dem riesigen Kanapee mit der kühn geschwungenen Lehne hing ein Trumm von einem Ölschinken: die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Der schwere Lüster, dessen Kristalle mit Spinnweben verhangen waren, zauberte regenbogenfarbige Prismen an die Wände, von denen an manchen Stellen der Putz abblätterte. Auch am Stuck hatte der Zahn der Zeit genagt und einige Fußbodenplatten waren gesprungen. Als Valerias Blick schließlich zur Decke schweifte, tauchte sie mitten hinein in eine Höllenvision: nackte Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern wurden von Wesen mit teuflischen Fratzen grausigen Torturen unterworfen. Dazwischen tummelten sich dämonische Gestalten, die sich mit höhnischen Gesichtern über die Qualen der Gefolterten amüsierten. Im Zentrum des Gemäldes stand eine dürre dunkle Gestalt mit einer Schnabelmaske und einem Stock in der Hand. Valeria schauderte.
»Ist dir kalt?«, fragte Matteo aufmerksam.
Valeria verneinte. Nein, es war nicht kalt, zumal im offenen Kamin ein Feuer züngelte. Er war riesig und aus Marmor, mit einer klassizistisch anmutenden Einfassung und einem breiten Sims, der von zwei grimmig blickenden Löwenhäuptern getragen wurde.
Bisweilen ertappte Valeria Claudio, Matteo und Fabiana dabei, wie deren Blicke prüfend zwischen Valeria und Lucia hin- und herwanderten. Kein Wunder, die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden war verblüffend: die katzenhafte Form der Augen, die hohen Wangenknochen, die gerade Nase mit den filigranen Flügeln, die herzförmige Oberlippe. Es gab jedoch, bei genauerem Hinsehen, auch Unterschiede. Lucias Brauen waren schmaler und beschrieben einen eleganten Bogen, während Valerias fast gerade waren. Valerias Haar hatte die Farbe dunkler Schokolade und war lockig und schulterlang, Lucias Haar war glatt, kinnlang und hatte einen walnussbraunen, warm schimmernden Ton. Außerdem war Lucia ziemlich dünn, was ihre Gesichtszüge schärfer hervortreten ließ. Valeria dagegen hatte in den letzten Wochen fast nur Fertiggerichte zu sich genommen. Dies – und der Mangel an körperlicher Arbeit und Bewegung – war nicht ohne Folgen geblieben: Ihre Jeans zwickte und sie kam sich neben Lucia fett und plump vor. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass Lucias Bewegungen ausgesprochen lebhaft und quirlig waren. Selbst wenn sie ruhig dasaß, vermittelte sie den Eindruck, als würde sie jeden Moment aufspringen. Beim Sprechen schaute Lucia ihrem Gegenüber so intensiv in die Augen, dass man ihrem Blick irgendwann unwillkürlich auswich. Passte ihr etwas nicht, neigte sie den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn, während Valeria in solchen Situationen, genau wie Rosa, die Lippen zu einem Strich zusammenpresste. Lucias Akzent ließ vermuten, dass sie im Süden aufgewachsen war. Sie drückte sich präzise und gewählt aus und sehr oft schwang ein Hauch von Ironie in ihrem Tonfall mit, der blitzschnell in beißenden Sarkasmus umschlagen konnte.
Und wie schlagfertig sie war!
Nicht nur Lucia, auch die anderen.
Fabiana: »Claudio, wenn du nicht aufhörst, deine Zähne zu bleachen, müssen wir bald alle Sonnenbrillen tragen.«
Claudio: »Du bist nur neidisch, weil du deine Augenringe nicht bleichen kannst.«
Den Wortgefechten der vier konnte Valeria nur staunend zuhören. Argumente flogen hin und her wie Tischtennisbälle, sie benutzten Begriffe, die wie Codes einer Geheimsprache klangen, und manchmal brachen sie in Gelächter aus, ohne dass Valeria auch nur ansatzweise verstand, worum es ging. Lucias Lachen wirkte dabei immer ein wenig kontrolliert, so als würde sie das letzte Quäntchen davon zurückhalten.
Nur zu gern hätte Valeria Lucia und ihren Freunden eine Menge Fragen gestellt; wer wie alt war, was sie machten ... Und natürlich die wichtigste Frage: Warum Lucia in den Park gekommen war und sie, Valeria, hierher mitgenommen hatte. Aber dann würden Gegenfragen gestellt werden und Valeria hatte keine Lust, als naives Landei enttarnt zu werden. Sie wollte weder von Alessandro erzählen noch von ihrem Zuhause. Und am allerwenigsten von ihrer Mutter. Denn diese Wahrheit, die ganze Wahrheit, war ja ohnehin tabu. Sie würde erst einmal abwarten. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit ja später noch.
Im Lauf des Abends fand Valeria immerhin heraus, dass Lucia bis vor Kurzem ein Internat in Schweden besucht hatte. Jetzt nahm sie an einigen Sommerkursen an der Uni teil und im Oktober wollte sie ein Studium der skandinavischen Literatur beginnen. Sie schien die Jüngste in der Runde zu sein, dennoch kam es Valeria so vor, als hätte Lucia hier das Sagen. Besonders Matteo und Claudio begegneten