Sonst brichst du dir das Herz. Susanne Mischke

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Sonst brichst du dir das Herz - Susanne Mischke

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wütend an: »Wenn du unbedingt reden willst, dann erklär mir doch mal so einiges: Wer war der Typ, den du erschossen hast? Was hat er dir getan? Und warum muss ich jetzt von einem Tag auf den anderen nach Rom? Darüber würde ich mich wirklich gerne mit dir unterhalten. Alles andere kannst du dir sparen, auch die Lakritze!«

      Daraufhin war es Rosa, die für den Rest der Fahrt stumm blieb. In Schweigen gehüllt erreichten sie den Bahnhof von Assisi. Dorthin fuhren sie sonst, wenn Rosa zu der Ansicht gelangte, man müsse wieder einmal unter die Leute. Meist fiel dieses Bedürfnis mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem sie neue Leinwände, Pinsel und Farben brauchte. Bei der Gelegenheit bekam auch Valeria neue Hefte, Bücher und Kleidung.

      Stumm vor sich hin starrend standen sie schließlich auf dem Bahnsteig, zwischen ihnen, wie eine Barriere, Valerias große Sporttasche. Die Lautsprecher kündigten die Einfahrt des Zuges an. Wieder spürte Valeria diesen Angstknoten in ihrem Innern.

      »Sei nett zu Alessandro«, brach Rosa das Schweigen. »Du darfst ihm nicht böse sein, weil er sich nie gemeldet hat. Es ist nicht seine Schuld, ich hatte ihn darum gebeten. Ich nahm an, das sei besser für dich.«

      Urplötzlich schlug Valerias Angst in Wut um. Wie um alles in der Welt kam ihre Mutter zu dem Schluss, es wäre besser für Valeria, wenn man ihr den Vater vorenthielt, um ihn dann nach Jahren wie ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern, wenn er einem nützlich erschien? Valeria hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber da kam neben ihnen der Zug kreischend zum Stehen. Also warf sie Rosa nur einen zornigen Blick zu und wandte sich ab.

      Die Türen öffneten sich, eine Schar deutsch sprechender Pilger und ein paar Einheimische stiegen aus. Rosa griff in ihre Handtasche und drückte Valeria einen Briefumschlag in die Hand. Den solle sie Alessandro aushändigen. Valeria steckte ihn in ihre gehäkelte Handtasche, die sie sich um die Schulter gehängt hatte, dann griff sie nach ihrer Sporttasche und stieg ohne ein Wort des Abschieds in den Zug. Rosas ausgetreckte Arme blieben leer.

      »Wiedersehen mein Kind. Du wirst sehen, Rom wird dir gefallen!«

      Da war er wieder, dieser aufgesetzt lebhafte Tonfall, allerdings unterlegt mit einem Hauch von Verzweiflung.

      Valeria antwortete nicht. Es kostete sie eine schier übermenschliche Anstrengung, sich nicht nach ihrer Mutter umzudrehen, aber Rosa sollte ruhig wissen, wie elend Valeria sich fühlte. Nein, nicht nur wissen. Rosa sollte sich ebenso elend fühlen wie sie. Der Kloß in Valerias Hals wurde größer. Sie betrat den Waggon, suchte nach der Nummer ihres Sitzplatzes, fand ihn und setzte sich hin. Der Platz neben ihr war leer, im ganzen Waggon saß nur ein knappes Dutzend Leute. Ein Pfiff, die Türen schlossen sich, sanft setzte sich der Frecciabianca in Bewegung. Valeria schielte durch das Fenster. Rosa stand auf dem Bahnsteig und winkte zaghaft mit der rechten Hand, die linke schirmte die Augen gegen das Sonnenlicht ab. Wie verloren und verletzlich sie auf einmal wirkte. Ihr Anblick versetzte Valeria einen Stich und der Impuls, ihr zuzuwinken, gewann die Oberhand. Aber ob Rosa das sehen konnte, war fraglich, denn der Zug war schon zu weit weg und wahrscheinlich spiegelten die Scheiben. Als ihre Mutter nur noch ein kleiner blauer Punkt war, sank Valeria zurück in den Sitz und ließ die schweren Tränen laufen, die sich hinter ihren Augenlidern angesammelt hatten. Sollte es jemand sehen, so war ihr das herzlich egal.

      Als keine Tränen mehr kamen, trocknete sie ihre Augen und Wangen, schnäuzte sich und zog den Umschlag aus ihrer Handtasche. Er war nicht beschriftet und er sah anders aus als die Briefumschläge, die Rosa normalerweise für ihre Korrespondenz benutzte. Er fühlte sich an, als wären Geldscheine darin. Ein ganzes Bündel musste das sein.

      Plötzlich hatte Valeria wieder die Szene von gestern Abend vor Augen. Hatte nicht einer der beiden Männer, die die Leiche fortgeschafft hatten, ihrer Mutter etwas in die Hand gedrückt?

      Valeria überkam die bizarre Vorstellung, gerade verkauft worden zu sein. Sie schwor sich hoch und heilig, ihrer Mutter während der Dauer ihrer Verbannung nach Rom nicht zu schreiben, keine einzige Zeile! Und anrufen würde sie sie auch nicht und nicht ans Telefon gehen, sollte Rosa bei Alessandro anrufen. Es sei denn, Rosa wollte ihr sagen, dass sie wieder nach Hause kommen dürfe.

      Zweieinhalb Stunden später fuhr der Zug am Bahnhof Roma Termini ein. Valeria, der die Fahrt erstaunlich kurz vorgekommen war, stieg aus. Der Bahnsteig und die Bahnhofshalle wimmelten vor Menschen, dass es einem schwindelig werden konnte. Die Kakofonie ihrer Stimmen, vermischt mit den Lautsprecheransagen, erfüllte die Luft. Valeria presste ihre kleine Handtasche fest an sich, denn bekanntermaßen war Rom voll von Taschendieben. Während sich der Bahnsteig leerte, hielt sie auf Zehenspitzen Ausschau nach Alessandro. In ihrer Erinnerung war er ein hochgewachsener Athlet mit blauen Augen und langen braunen Locken, die in einen kleinen Zopf mündeten. Wo war er nur? Hatte er sie vergessen, hatte er es sich anders überlegt, hatte Rosa sie am Ende angelogen, nur um sie loszuwerden?

      Valeria war kurz davor, in Panik zu geraten, als ein fremder Mann auf sie zustürmte, sie umarmte, ihr zwei Wangenküsse aufdrückte und rief: »Nicht zu glauben, die Maulbeerprinzessin ist eine richtige Dame geworden!«

      Maulbeerprinzessin. Das Wort war wie ein Code und es beschwor ein lange vergessenes Bild herauf: Sie, in ihrem Lieblingssommerkleid und mit einer Krone aus Blumen und Lorbeerzweigen hoch oben im Maulbeerbaum sitzend, und unten, auf dem Hof, ihre Lakaien. Rosa hatte meist nach kurzer Zeit den Dienst quittiert, aber Alessandro hatte eine Engelsgeduld bewiesen und sich ganze Nachmittage lang herumscheuchen lassen. Sehr wohl, Eure Majestät, noch einen Schokoladenkeks, stets zu Diensten, Eure Majestät …

      Die Erinnerung an diese Szenen hinterließ ein warmes Gefühl, irgendwo in ihrem Inneren. Sie lächelte und gelangte zu der Erkenntnis, dass acht Jahre einem Menschen ganz schön zusetzen konnten. Alessandros Zopf war ab, die Locken waren stellenweise ergraut und hatten sich arg gelichtet. Über dem Gürtel der Jeans wölbte sich ein kleiner Bauch und außerdem schien Alessandro geschrumpft zu sein. Nur seine blauen Augen waren noch dieselben. Schade, dass ich die nicht geerbt habe, dachte Valeria, deren Pupillen braungrün waren, genau wie die von Rosa.

      Alessandro schien sich aufrichtig über ihre Ankunft zu freuen, sein Lächeln war herzlich und offen. »Willkommen in der Ewigen Stadt!«, rief er. »Wir müssen uns beeilen, mein Wagen steht im Parkverbot.«

      Als sie im Auto saßen, wollte er wissen, ob die Fahrt angenehm gewesen sei, ob sie Rom denn schon kenne, wie es Rosa gehe. Valeria gab einsilbige Antworten: ja – nein – gut. Sie war ziemlich abgelenkt durch Alessandros Fahrweise und die der zigtausend anderen Auto- und Mopedfahrer um sie herum, die allesamt durch die Stadt jagten, als gebe es kein Morgen. Sollten sie jemals heil ankommen, würde Valeria sich bestimmt nie wieder zu Alessandro ins Auto setzen. Erwartete er eigentlich, dass er sie »Vater« oder »Papa« nannte? Soweit sie sich erinnerte, hatte sie ihn immer bei seinem Namen genannt. Fürs Erste vermied sie die direkte Anrede. Ohnehin redete die meiste Zeit er: von seinen Kindern, der sechsjährigen Chiara und dem dreijährigen Moreno, von Adriana, seiner Frau, und von seinem Job, irgendwas beim staatlichen Fernsehsender RAI. Valeria verstand nicht alles, verzichtete aber darauf nachzufragen. Sie wollte nicht dumm erscheinen und außerdem wünschte sie inständig, er würde die Hände am Steuer lassen, anstatt sie zum Reden zu benutzen. Lieber Gott, lass diese Höllenfahrt endlich vorbei sein.

      Nun seien sie gleich da, verkündete Alessandro nach einer halben Stunde halsbrecherischer Raserei, die sie wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hatten. Sie fuhren durch einen Vorort mit Wohnblocks, Supermärkten, Parkplätzen und Lagerhallen. Valeria studierte die Leuchtschriften.

      »Ich habe eine Bitte …«, begann Alessandro verlegen. »Chiara … Sie weiß nicht, dass du … also, sie hat bis gestern noch nichts von deiner Existenz gewusst. Ich glaube nicht, dass sie versteht …«

      »Schon gut«, sagte Valeria. Damit wäre die Frage der Anrede also auch

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