Colombia Es Pasión!. Matt Rendell
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In seinen Archiven finden sich physiologische Daten von praktisch jedem Fahrer, der jemals das Programm durchlaufen hat. Er scrollt einen Bildschirm auf seinem Laptop herunter: »Ich habe« – er hält kurz inne – »327 VO2max-Tests, die auf dem Radergometer durchgeführt wurden.« Er springt von Datei zu Datei. »Hier ist Sergio Luís Henao im Jahr 2004. Ah, hier haben wir Dynamometrie und Spiroergometrie für Rigoberto Urán, hier noch mal Rigoberto, Sergio Luís, Nicolas Castro, Julián David Arredondo, Carlos Julián Quintero…«
Es ist eine zeitgenössische Geschichte des Radsports in Antioquia.
Im Zentrum all dieser Expertise entwickelte sich Sergio Luís Henao zu einem der besten jungen Fahrer im Land. 2007 ging er zu Colombia Es Pasión und blieb drei Jahre. 2008 gewann er die Vuelta a Colombia der U23 vor seinem Teamkollegen Fabio Duarte; Cayetano Sarmiento wurde Dritter. Darwin Atapuma, der für Orgullo Paisa (offiziell Indeportes Antioquia-Idea) fuhr, wurde Fünfter, und Jarlinson Pantano, in seinem zweiten Jahr bei Colombia Es Pasión, wurde Neunter.
Ebenso wie Jarlinsons Haus in Cali wurde die Finca der Henaos, wie Sebastián es ausdrückt, zu einer Art »Leistungszentrum«. »Freunde oder Teamkollegen kamen häufig zum Abendessen, blieben über Nacht und machten sich dann mit mir zum Training auf. Wir hatten nicht viel Geld, aber es gab immer einen Teller Reis oder Linsen.«
2008 nahmen die Henaos auch Jarlinson Pantano auf. »Er blieb ein Jahr und wurde zu einem Teil der Familie«, sagt Sergio.
Sergios Cousin Sebastián, damals erst 13, schloss sich an manchen Tagen Sergio und Jarlinson an. Er erzählte mir: »Wir stellten unsere Rennräder in der Wohnung eines Cousins in Rionegro unter, also stand ich um sechs Uhr morgens bei Sergio auf der Matte, mit meinen Klamotten im Rucksack. Wir fuhren auf Mountainbikes die halbe Stunde dorthin. Sergio legte immer ein ziemliches Tempo vor, mit mir und Jarlinson hintendrein, unser Frühstück kam uns fast wieder hoch. Wir zogen uns in Rionegro um und begaben uns dann auf die Straße.«
Sebastián fügt hinzu: »Es gab Tage, da Sergio fünf Stunden fuhr und Pantano nur anderthalb, um zu regenerieren. Ich erinnere mich, dass Pantano sagte: ›Du trainierst zu hart, Sergio!‹«
Sergio erzählt mir: »Als Chaves zu Colombia Es Pasión wechselte, wollte er ebenfalls mit mir trainieren. Saldarriaga hatte ihm die Chance gegeben, sich dem Team anzuschließen, doch er war sehr schmächtig, hatte kaum Muskelmasse, und er hatte Knieprobleme. Aber er kam und wohnte 2009 bei uns im Haus und 2010 kam dann Carlos Betancur, um sich auf die Vuelta de la Juventud vorzubereiten.«
Für die vielen Radrennfahrer, die in der Finca der Henaos wohnten, wurde Cecilia Marín, Sergios Mutter, zu einer wahren Legende, die all die zukünftigen Champions, die den Hof der Familie besuchten, großzügig mit traditionellem Zuckermais aus Antioquia, Bohnen und aguapanela versorgte.
2008 verstärkte sich Colombia Es Pasión mit einem weiteren Fahrer, der im kolumbianischen Juniorenbereich dominiert hatte. Darwin Atapuma und Jarlinson Pantano waren sich erstmals 2001 bei der Vuelta al Cauca begegnet, einem Rennen rund um das reizende Kolonialstädtchen Popayán im Südwesten des Landes, bei dem, soweit sich die beiden erinnern, seinerzeit Darwin gewann.
»Er war immer ein Alptraum für mich!«, erzählt mir Jarlinson, der heute darüber lachen kann.
Fünf Jahre später – zehn Tage vor dem Start der Vuelta del Porvenir 2006 – zogen die sechs Fahrer der Mannschaft aus Valle del Cauca in ein Hotel in Túquerres, um sich auf das Rennen vorzubereiten. Der Kontrast hätte kaum größer sein können.
»Jarlinson kam aus 30 Grad Hitze in Cali zu fünf Grad und strömendem Regen hier bei uns [in Túquerres]«, erinnert sich Darwin. »Er zitterte vor Kälte und ich weiß noch, dass wir uns ansahen und lachen mussten. Jarlinson meinte nur: ›Ist ja ein komplett anderer Sport hier….!‹«
Darwin Atapuma ist 17. Er hat die Finca der Familie schon lange verlassen und lebt zusammen mit seinem älteren Bruder Remigio in Túquerres. Die Kleinstadt liegt auf einer Höhe von 3.100 Metern unterhalb des semi-aktiven Vulkans Azufral in der bäuerlich geprägten Hochgebirgsprovinz Nariño unweit der Grenze zu Ecuador, von wo aus sich die Anden nordwärts quer durch Kolumbien erstrecken.
Daheim auf der elterlichen Finca hat Darwin eine Kuh und ein entwöhntes Kalb stehen. Seine Mutter melkt die Kuh, verkauft die Milch und schickt Darwin die Einnahmen, der damit Miete, Verpflegung und Ausbildung in Túquerres bezahlt. Doch Darwin steht vor einem Dilemma. Er braucht ein leichtes, modernes Rennrad. Ohne ein solches sind seine Chancen, die Vuelta del Porvenir 2005 zu gewinnen, das nationale Etappenrennen für 17- und 18-Jährige, gering. Aber wenn er seine Kuh verkauft, bringt er sich um seine einzige Einnahmequelle.
Darwins Dilemma ist eines, mit dem sich viele kolumbianische Fahrer aus bäuerlichen Familien konfrontiert sehen. Er wog das Für und Wider ab und wagte den Schritt. Aber wie viele junge Talente befinden das Risiko für zu hoch und bringen Kolumbien damit um Soft Power und berauben das Land weiterer sportlicher Repräsentanten in der Welt?
Darwin bereitete sich in Huila, einer anderen vulkanisch geprägten Provinz, auf einem Giant-TCR-Carbonrahmen auf die Vuelta del Porvenir vor. Favorit war der Vorjahressieger Rigoberto Urán, der sich, wie auch sein Teamkollege Sergio Luís Henao, in seinem letzten Jahr in der U19 befand. Auf seinem neuen Rad übernahm Darwin die Führung in der Bergwertung, kämpfte sich bis auf den dritten Platz im Gesamtklassement vor – und stürzte. Er beendete das Rennen auf einem Ersatzrad und verteidigte das Bergtrikot, rutschte in der Gesamtwertung aber auf Platz 19 ab. Schlimmer noch, sein Carbonrahmen war gebrochen.
»Das war’s«, entschied er. »Ich brauche eine Arbeit. Ich gebe den Radsport auf.«
Für viele andere Fahrer wäre der Traum von der Karriere damit erledigt gewesen. Darwin aber, der aus einer dieser vielköpfigen Bauernfamilien stammte, in der Geschwister zum Teil viele Jahre auseinanderlagen, hatte seinen Bruder Remigio, 18 Jahre älter als er, der ihm als Trainer und als Kamerad zur Seite stand.
Insgesamt waren es neun Atapuma-Geschwister: Alirio, Carmen, Remigio, Doris, Pablo, Damaris, Elsa, Alex und Darwin, wobei den Erst- und den Letztgeborenen 22 Jahre trennten. Sie alle hatten auf den Feldern gearbeitet. Remigio erzählt mir: »Auf dem Land musst du, sobald du fünf oder sechs bist, ran und die Kühe oder Pferde von der Weide holen oder Besorgungen machen oder Wasser holen. Was immer dein Vater dir auftrug, du hast es gemacht.«
Der besagte Vater, Ignacio Sigifredo Atapuma, war in Vereda Chambú, 23 Kilometer von Túquerres entfernt, aufgewachsen. Als Sigifredo und María Bersabeth Hurtado, die aus einer benachbarten Vereda namens Guaisés stammte, beschlossen, ein gemeinsames Leben aufzubauen, war Sigifredo nichts weiter als ein Landarbeiter und verdingte sich, wo immer es Geld zu verdienen gab. Doch das Land war fruchtbar und Sigifredo war beharrlich, und als Darwin, das letzte seiner Kinder, 1988 zur Welt kam, beschäftigte Sigifredo 20 Arbeiter auf zwei Fincas, baute seine eigenen Feldfrüchte an und kaufte die seiner Nachbarn an, um sie auf seinen eigenen Packpferden zu den umliegenden Märkten zu bringen.
Es war eine erstaunliche Erfolgsgeschichte für einen Kleinbauern, sie gehörte aber in ihre Zeit: Nach der Öffnung der nationalen Wirtschaft wäre sie undenkbar gewesen. Sigifredo und seine Männer bauten Mais, Bohnen, Kartoffeln, Karotten und Kohl an, aber der Großteil der Einnahmen stammte aus Weizen und Gerste, die sie an