Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval. Bernhard Hennen

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Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval - Bernhard Hennen

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mitzuspielen. Nele grölt abwechselnd mit und stiert dann wieder mit glasigen Augen ins Feuer, während sie große Schlucke aus einer halbleeren Rumflasche nimmt.

      Mit der fortschreitenden Nacht weichen die Grenzen zwischen uns auf und wir beginnen, unmerklich ineinander zu fließen. Neles Kopf fällt schwer in Sandrinas Schoß, wo er von ihren weichen Fingern umschlossen wird. Tom und Beate nehmen Moritz in ihre Mitte, der seine Flöte weggelegt hat und sich an Tom anschmiegt wie eine Katze. Nur Katrin versucht noch, mit Toms Trommel einen Rhythmus aufrechtzuerhalten, während Anna Michael eng umschlungen hat und es dabei weiterhin schafft, der Gitarre Liederfetzen zu entlocken. Es ist nicht auszumachen, ob es Annas oder Michaels Finger sind, die über die Saiten gleiten und wie zufällig manchen wohlklingenden Akkord greifen.

      Schließlich ersterben die Gitarrentöne. Eine Weile lang sind nur ab und zu ein leises Kichern oder ein freundlich gemurmeltes Wort zu hören und davon abgesehen nichts als das Knistern des Feuers und der still wabernde Nebel. Bis irgendjemand von uns in die Stille hinein eine zarte Melodie zu singen beginnt. Nach und nach stimmen wir alle mit ein in das wohlbekannte Lied und das Band der Melodie webt uns zusammen, tanzt mit den Funken und schwingt sich heiter hinauf in die Nacht. Unser Lied wogt, mal lauter und mal leiser, durch uns hindurch und über uns hinweg, während wir warm und wohlig ums Feuer herum liegen. Nach einem nicht bestimmbaren Zeitraum, vielleicht zwei Minuten, vielleicht eine Stunde – werden unsere Stimmen allmählich wieder leiser und vorsichtiger und zart in der Luft erklingt eine letzte Strophe, bevor der Gesang verebbt und in eine aufmerksame, tiefe Stille mündet.

      »Sehr ergreifend«, tönt eine dunkle Stimme über uns.

      Bestürzt ob des plötzlichen Einbrechens von etwas, was nicht wir sind, verrenken wir uns und rappeln uns auf, um zu erkennen, von wo die Stimme kommt. Eine Gestalt ist in unseren Kreis getreten, deren von schwarzem Haar gerahmtes Gesicht vom flackernden Feuerschein bedrohlich erhellt wird. Wir sind auf kaltem Fuß erwischt, trotz der Stille hat keiner von uns sie kommen hören.

      »Ich hoffe, ich störe euch nicht«, fährt Adrastea fort, »ich würde mich freuen, euren Kreis mit etwas Wein und meiner Musik bereichern zu dürfen.«

      Ihre Stimme ist leise und gleichzeitig von einer Fülle, die uns in ihren Bann zieht. Ein leichter südländischer Akzent formt die Ränder ihrer Worte. Ohne unsere überraschte, eifrig einladende Antwort abzuwarten, kniet sie sich zu uns ans Feuer und öffnet einen Weinschlauch, den sie umgehängt hat.

      »Ich danke euch für das Angebot eurer Gesellschaft heute Abend«, sagt sie und nickt dem verwirrten Fabian dabei zu. »Lasst uns trinken und fröhlich sein! Auf Dionysos!«

      Sie gießt einen Schluck Wein ins Feuer und gibt den Schlauch danach im Kreis herum. Der Wein schmeckt süß und stark und steigt uns sofort zu Kopf. Als alle reihum getrunken haben, klatscht Adrastea in die Hände und verlangt ein Lied. Unsicher blicken wir zu Anna, die zögernd die Gitarre aufhebt und ihren Körper strafft.

      »Ich glaube nicht, dass du hören willst, was ich jetzt noch auf der Gitarre zustande bringe«, sagt sie und lacht nervös, »wir trinken heute Nacht schon eine Weile und ich weiß nicht, ob ich meinen Fingern noch vertrauen kann.«

      Adrastea fegt ihre Zweifel mit einer Handbewegung beiseite.

      »Ach, umso besser. Lass hören!«

      Anna konzentriert sich und beginnt eine komplizierte Ballade. Beate klopft vorsichtig einen Rhythmus dazu und wir anderen stimmen beim Refrain in den Text mit ein. Adrastea lächelt und lauscht aufmerksam, dann holt sie ihre zwei Flöten hervor und improvisiert zur Hälfte des Liedes eine zweite Melodiestimme. Der durchgehende Klang verwandelt das bekannte Lied in ein seltsames, neues Geschöpf, das sich unsere Stimmen aneignet. Als die letzte Strophe zu Ende gesungen ist, spinnt Adrastea den Melodiefaden weiter und weiter, bis das ursprüngliche Lied nicht mehr erkennbar ist. Die dunklen Töne werden wilder und jubelnder, so dass unsere Körper von ihnen ergriffen werden. Beate steigt schnell und energisch mit ihrer Trommel in die Musik ein. Dann setzt Adrastea die Flöten ab und steht auf.

      »Kommt und tanzt!«, ruft sie. »Ihr seid jung, ihr seid frei!«

      Wie in Trance folgen wir ihrer Aufforderung. Die steifen Glieder streckend erheben wir uns und beginnen uns im Gleichklang mit den Tönen zu bewegen, die Adrastea ihrem merkwürdigen Instrument entlockt. Ihr neues Lied ist zuerst langsam und zart und verströmt doch jene Unerbittlichkeit, die ihrer Musik eigen ist. Ganz nah am Feuer steht die kleine Frau in kerzengerader Haltung und ehrfurchtgebietend, während wir uns schwebend um sie herumbewegen. Ohne die Flöten abzusetzen und ohne auch nur das geringste Atemholen, verändert sie ihr Spiel, wird mal wilder, dann wieder langsam und getragen und wir müssen ihr folgen, können nicht aufhören zu tanzen, gönnen uns keine Pause.

      Die Musik wechselt in ihrem Charakter zwischen jener funkelnden Notwendigkeit, die uns schon am vorigen Abend entzückt hatte, und erschreckender Anarchie. Mal klingt sie, als ob alles, was vorher gewesen ist, nur auf sie hingeführt hat, alles Leben auf der Erde, jeder Schritt, jedes zufällige Dasein, in der Melodie dieses Moments kulminiert, in dem wir auserkoren sind, zu ihr zu tanzen. Für die Dauer der Töne, in ihrem Tempo, ihrem Rhythmus, bekommt auf einmal alles einen Sinn verliehen und darf in der Musik aufgehen. Dann wieder erzählen die dunklen Töne von der grausamen Unentrinnbarkeit des Zufalls und Adrasteas Flöten schreien in wütenden Melodien den tiefsten Schmerz des Daseins heraus. Wir sehen der Unerträglichkeit dieses Schmerzes ins Auge und werden in seinem Angesicht von höchster Entzückung ergriffen.

      Die Nacht um uns herum verliert an Wirklichkeit und wir sind entrückt an einen fremden Ort, an dem es uns endlich möglich wird, wahrhaftig zu einem Wesen zu verschmelzen, aufgespalten in neun tanzende Inkarnationen. Die restlichen Lagerfeuer mit anderen Festivalbesuchern existieren längst nicht mehr, es gibt nur das tanzende Wesen mit dem großen Willen in der Mitte. Und doch – etwas ist da noch. Flackernde Schatten, geschmeidige Gestalten. Kaum aus dem Augenwinkel erhascht, mal eine Tatze, mal ein Fauchen, umschließen sie unseren Kreis. Sind es Raubkatzen, Bären? Dazwischen irgendwo ein Ziegenbock, soviel ist sicher. Sie folgen wie wir der Musik.

      Dann hält Adrastea inne und wirft ihre beiden Flöten ins Feuer, während die Musik lauter und vielstimmiger wird. Von überall tönen singende Stimmen, von um uns her, von den wilden Wesen oder kommen sie aus uns? Adrastea steht am Feuer oder darin und erhebt die Arme. Sie ruft uns zu sich, das Feuer knackt und wirft Funken, wir schwitzen und glühen im Tanz. Ihr Mund bewegt sich, sie ruft, doch wir verstehen nichts, denn die Musik ist überall, und wir reißen uns die Kleider vom Leib, das Feuer ist so laut, wir tanzen schneller und schneller. Noch einmal ruft sie, ihr Kopf von Flammen und Hörnern umkrönt, gebieterisch zeigt sie in unsere Mitte. Jetzt hören wir, was sie sagt, und müssen gehorchen, wir wollen gehorchen, welch süße Lust, uns ihrem Willen zu ergeben. Doch wir sind eins, neunmal dasselbe, einmal vielgestaltig. Sie zeigt auf jeden von uns und doch auf einen. Den Schönsten, den Reinsten.

      Zu ihr ans Feuer tritt Michael, schweißtropfend die Brust, Angst im Gesicht. Sie küsst ihn sanft auf den Mund, legt einen Blätterkranz auf sein Haar und ein Tierfell um seine nackten Schultern. Wir übrigen sind zerteilt, verwirrt, wir halten inne im Tanz. Wie angewurzelt starren wir ihn an, den Unsrigen. Anderen. Schön ist er, die zarte Haut, das Haar, das pochende Blut.

      Wir wollen ihn haben. Ihn an uns spüren und in uns. Wir sind von der Gier besessen, ihn zu besitzen, mit ihm zu verschmelzen. Sie stößt ihn und wir stürzen uns auf ihn. Er rennt, doch wir packen ihn. Er schreit, doch wir reißen ihm die Zunge heraus. Wir zerren, beißen, saugen. Geweitete Augen. Blut in Strömen. Reißen, Schlingen, Verzehren. Köstliches Fleisch. Oh, nie gekannte Verzückung!

      Bis nichts mehr von ihm übrig ist.

      4 Epilog

      Am Morgen der Abreise

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