Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval. Bernhard Hennen
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Ständig erinnerte ihn alles in seinem Leben daran, dass er tausende Kilometer hinter sich hatte – zu Fuß, auf kleinen Karren, über das Meer. Die Angst hatte ihn und seine Familie aus Aleppo vertrieben. Dort fielen Bomben, Schüsse peitschten nahezu pausenlos durch den Tag und die Nacht, Menschen schrien und weinten und viele von seinen Freunden waren entweder tot oder verschwunden.
Glücklicherweise hatte Enis’ Vater eine Arztpraxis, so dass zumindest das Haus von den Heckenschützen und Plünderern verschont geblieben war. Doch vor ein paar Monaten war es selbst dort nicht mehr sicher und die Familie entschloss sich, Enis und seinen Bruder loszuschicken, um in einem fernen Land in Europa ein besseres Leben zu finden. Sie kratzten die letzten Ersparnisse zusammen und die beiden jungen Männer machten sich auf den Weg ins Ungewisse. Seine Eltern packten das Nötigste zusammen und gingen aufs Land zu Verwandten, weg aus der Stadt. Sie würden klarkommen, hatte ihm der Vater versichert und gab ihm als letztes Geschenk ein nagelneues Smartphone. Das hatte der Arzt als Bezahlung von einem Patienten bekommen, ein älteres Modell zwar, aber es erfüllte seinen Zweck – die Verbindung zur Familie aufrechtzuerhalten.
Enis lag mit offenen Augen auf dem Bett und versuchte, sich an die Reise zu erinnern, aber das fiel ihm schwer. Immer, wenn er die Augen schloss, hörte er nur Schreie und Schüsse. Er sah weinende Kinder in einem überfüllten Schlauchboot – mitten auf dem Meer. Sie weinten stumm, damit die Menschen auf dem Boot nicht gehört wurden. Ihre Mütter hielten ihnen die kleinen Münder zu und beteten still zu Allah, dass sie die Überfahrt heil überstehen. Am Strand weinten einige Mütter, weil ihre Kinder es nicht geschafft hatten. Sie waren verdurstet oder ins Wasser gefallen und ertrunken. Enis spürte eine Träne im Augenwinkel, er zitterte am ganzen Körper und musste sich erst beruhigen, bevor er sein Zimmer verlassen konnte. So war es jeden Tag! So war es jede Nacht vor dem Einschlafen!
Später in dieser Woche bemerkte der Syrer einige Menschen im Park gegenüber. Sie liefen über die Wiese und sahen sehr beschäftigt aus. Viele junge Leute waren dabei und es schien, soweit es Enis von seinem Balkon aus sehen konnte, als ob sie etwas vorhatten. Auf der Wiese bauten sie in den nächsten Tagen eine große Bühne auf. Sie hingen den Zaun mit großen Bannern zu und ständig kamen LKWs an. Oft bis in den späten Abend hinein hörte Enis die Leute dort drüben werkeln, reden, rufen, lachen und singen. Er fand das spannend, denn es lenkte ihn von seinen düsteren Gedanken an die Heimat und die zurückgebliebene Familie ab. Zu gern hätte er gewusst, was im Park genau passierte. Die Menschen sahen freundlich aus und das war leider in Enis’ Alltag eher ein ungewohnter Anblick. Klar, die Helfer im Hotel waren freundlich zu ihm. Sie halfen ihm mit seinen Asylunterlagen, gaben Deutschunterricht und kümmerten sich um ihn, wenn es Probleme gab. In dem Städtchen jedoch wurden Enis und seine Freunde oft angestarrt. Mütter wechselten mit ihren Kindern die Straßenseite, Männer blickten sie grimmig an und manche Verkäuferin im Supermarkt beschattete die jungen Syrer geradezu, obwohl sie genug Geld in den Taschen hatten und immer alles bezahlten, was sie einkauften.
Als Enis an diesem Nachmittag – es war ein Donnerstag – in den Hof herunterkam, herrschte dort helle Aufregung. Ein älterer Mann stand vor dem Hotel und sprach auf Deutsch mit den Helfern. Der Mann trug einen hellen Hut, er hatte einen Drei-Tage-Bart und viele Lachfalten um die Augen. Auf seiner Jacke war ein goldenes Logo zu sehen, das Enis schon von den Bannern am Zaun kannte. Enis drängte sich mit den anderen um den Mann, der so aussah, als ob er auf der anderen Straßenseite etwas zu sagen hätte. Es war schwer, etwas zu verstehen. Enis hatte gerade erst begonnen, die fremde Sprache zu lernen. Er schnappte ein paar Worte auf: Festival, Musik, helfen. Die Dolmetscher kamen kaum nach mit der Übersetzung. Nach einigem Hin und Her wusste der Syrer, worum es ging. Der Mann mit dem Hut wollte den Menschen im Hotel gern eine Freude machen und lud sie auf das Festival ein, das am Wochenende stattfinden würde. Wer also Lust hatte, konnte am Samstag in den Park kommen und ein paar schöne, unbeschwerte Stunden verleben. Enis freute sich! Das war eine willkommene Abwechslung in seinem Alltag. Aufgeregt lief er die Treppen hinauf, um seinen Zimmergenossen davon zu erzählen. Gemeinsam beschlossen die jungen Männer, das Festival zu besuchen, das am nächsten Tag beginnen sollte.
Den Freitagabend verbrachte Enis damit, von seinem Balkon aus das bunte Treiben im Park zu beobachten. Viele Menschen tummelten sich dort, es gab Musik, die Enis noch nie zuvor gehört hatte. Er erkannte vertraute Klänge, schließlich hatte er in Syrien nicht hinter dem Mond gelebt, es gab Internet. Die Leute im Park tanzten vor der großen Bühne und ihre farbenfrohe Kleidung verschmolz vor Enis’ leuchtenden Augen zu einem bunten Flickenteppich. Er hörte die Festivalbesucher lachen und singen, hier und da flackerte ein Feuer und jeder schien glücklich und entspannt zu sein. Enis stand lächelnd auf seinem Balkon und an diesem Abend konnte er vor Aufregung fast nicht einschlafen.
Der Samstag begann mit Sonnenschein und Enis suchte in seinem kleinen Schrankfach nach ein paar Kleidungsstücken, die er tragen konnte. Er wollte heute besonders gut aussehen, deswegen fiel seine Morgentoilette ausgiebiger aus als normalerweise. Sorgfältig kämmte er sein Haar, rasierte sich und zog sein bestes Hemd an. Zum Glück hatten die Bewohner des Hotels neue Schuhe und Hosen bekommen, die ihnen von hilfsbereiten Stadtbewohnern gespendet worden waren. Zusammen mit seinen Freunden ging er zuerst an den kleinen See hinunter, wo sie die kleine Familie aus Afghanistan trafen, die auf demselben Flur lebte. Enis staunte über die Wiese am See, denn die hatte sich in einen Strand mit Palmen, Sonnenschirmen und verschiedenen Ständen verwandelt. Sogar ein Floß gab es, auf dem es sich als Piraten verkleidete Männer und Frauen gut gehen ließen. Auf den vielen Bänken saßen die Besucher, die miteinander sprachen und irgendetwas aus Kokosnüssen tranken. Niemand achtete auf Enis und seine Freunde und falls sie doch jemand bemerkte, wurden die jungen Männer freundlich gegrüßt und angelächelt. Das hatte Enis nicht erwartet!
Im Park selbst begegneten ihnen nur lächelnde Menschen. Dort spielte ebenfalls überall Musik und Enis genoss es, sich durch die Besucher treiben zu lassen. Mit dem bisschen Geld, was er in seiner Hosentasche hatte, gönnte er sich ein orientalisches Mittagessen aus Rindfleisch, Bohnen und Couscous – das erinnerte ihn an seine Heimat. Viel gab es zu sehen und zu entdecken auf diesem Festival, so dass die Stunden bis zum Abend wie im Flug vergingen. Enis konnte die Strapazen seiner Flucht für eine Weile vergessen und fiel in dieser Nacht sehr glücklich in sein Bett.
Am Sonntag weckte Enis die Musik. Er war erst so spät in sein Zimmer zurückgekehrt, dass er fast bis zum Mittag geschlafen hatte – zum ersten Mal seit Wochen ohne Albträume. Das Wetter meinte es gut mit dem Festival. Die Sonne schien und Enis machte es sich auf seinem Balkon gemütlich, um ja nichts von dem Geschehen im Park zu verpassen. Wieder war die Musik fremdartig, aber längst nicht mehr so unbekannt wie an den Tagen zuvor. Die Ansagen der Musiker verstand Enis nicht immer, obwohl sie manchmal auf Englisch waren – das hatte Enis in seiner Heimat gelernt und konnte es normalerweise gut verstehen. Doch diese eine Gruppe, die am Nachmittag auf der Bühne stand, musste eine andere Sprache sprechen. Es klang weder nach Deutsch, noch nach Englisch, noch nach einer Sprache, die Enis jemals gehört hatte. Dafür gefiel ihm die Musik sehr! Enis fing auf seinem Balkon an zu tanzen. Er war so darin versunken, dass er nicht bemerkte, dass er vom Park aus beobachtet wurde.
Dort saß eine junge Frau in dem abgesperrten Bereich hinter der Bühne an einem Tisch und sah ihm beim Tanzen zu. Sie hatte ein Büchlein vor sich, in dem sie sich Notizen machte. Sie war auf dem Goldberg als Redakteurin zu Gast und schrieb an ihrem Festivalbericht. Später stand darin: »Von Irxn aus Bayern bekamen wir nur wenig mit. Ein kurzer, aber typischer Selb-Moment jedoch