5 Strand Krimis: Killer, Kohle und Konsorten. Alfred Bekker
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Irgendwann langte der Maskierte ins Regal.
Er holte sich eine Rolle extrabreites Gewebeband heraus.
Metallfarben. Wolf sah es aus den Augenwinkeln. Es war ihm anzusehen, wie sehr ihn die Frage beschäftigte, was das zu bedeuten hatte. Kein Mensch veranstaltete so ein Theater, um eine Rolle Isolierband zu stehlen... Das wusste auch Norbert Wolf.
Bei der Holzabteilung befand sich ein Informationsstand.
Der Maskierte ließ den Blick schweifen.
Dann blickte er hinter den Tresen.
"Setz dich auf den Stuhl dort!", wies er Wolf unmissverständlich an.
Wolf atmete tief durch. "Hören Sie, was wollen Sie eigentlich. Ich mache Ihnen keine Schwierigkeiten... Ich..."
"Ich will dein Gerede nicht hören!", erwiderte der Maskierte kalt. "Auf den Stuhl..."
Wolf keuchte. Panik erfasste ihn.
"Sie waren das, nicht wahr? Sie haben mich angerufen und diese Briefe geschickt... Sie..."
"Auf den Stuhl!"
Wolf gehorchte. Er setzte sich auf den schon ziemlich durchgesessenen Drehstuhl. Es quietschte dabei.
"Hände auf den Rücken!", kam der Befehl des Maskierten.
Wolf gehorchte. Und in der nächsten Sekunde bekam er einen brutalen Schlag mit dem Pistolenlauf gegen die Schläfe.
Benommen sackte Wolf in sich zusammen. Der Maskierte legte die Waffe auf den Tresen und packte das Isolierband aus der Folie. Und dann begann er damit, Wolf regelrecht einzuwickeln. Er band die Arme nach hinten und verklebte sie mit dem Stuhl. Dann bog er grob die Beine unter den Stuhl und schnürte die Füße mit den Händen zusammen. Wolf stöhnte. Er schien wieder zu sich zu kommen.
Bevor er etwas lauter werden konnte, hatte der Maskierte ihm allerdings auch den Mund verklebt.
Dann drehte der Maskierte den Rollstuhl herum.
Wolf sah ihn trübe an. Angst leuchtete aus seinen blassblauen Augen.
Der Maskierte musterte sein Opfer einen Augenblick lang durch das geschlossene Helmvisier.
Dann gab er dem Stuhl einen Tritt.
Etwa zwei Meter entfernt befand sich eine Stufe. Der Stuhl fiel krachend zu Boden. Ein dumpfes Ächzen kam unter dem Klebeband hervor. Wolfs Augen waren vor Angst geweitet. Er lag hilflos am Boden und versuchte verzweifelt, sich zu bewegen. Wie ein eingesponnenes Insekt in einem Spinnennetz.
Der Maskierte nahm die Waffe wieder an sich und betrachtete den am Boden Liegenden.
Dann hob er die Waffe, zielte und drückte ab.
Wolf schloss die Augen.
Es machte klick.
Die Pistole war nicht geladen. Ein dumpfes Lachen dröhnte unter dem Helm hervor, während auf Wolfs Stirn die Schweißperlen glitzerten.
2
Moeller setzte das Saxophon an den Mund. Ein rauer, knarrender Ton kam heraus und bildete das erste Element einer flirrenden Tonkaskade.
Moeller schloss die Augen.
Über der leicht swingenden Basslinie des Miles Davis-Standards SO WHAT entwickelte er seine Improvisation. Ein steter Fluss roher, kantiger Töne sprudelte aus seinem Horn.
Appeggi, die manchmal etwas neben der Tonart waren.
Dazwischen auch ein paar Kiekser und Obertöne, von denen sich nur vermuten ließ, in wie weit sie in dieser Form tatsächlich beabsichtigt waren oder nur in Kauf genommen wurden.
Aber was für einen John Coltrane erlaubt gewesen war, das durfte auch Moeller. In dieser Hinsicht war Moeller Anarchist. Er kannte keinen Respekt. Nicht vor Lebenden oder Toten und auch nicht vor den Ohren und Nerven seiner Zeitgenossen und Nachbarn. Vielleicht spielte Moeller etwas schief, aber dafür klang es interessant. Moeller spielte mit mehr Inspiration, als so manche hochgelobte Jazz-Größe. Fand er jedenfalls selbst.
Sein Solo entwickelte sich. Immer gewagtere Tonsprünge und Läufe reihten sich aneinander. Moeller spielte sich in eine Art Rausch. Außer ihm selbst und seinem Instrument war da nur noch der Kopfhörer mit den dicken Muscheln, auf dem er Bass, Klavier und Schlagzeug hörte, die er zuvor mit Hilfe eines Roland-Sound-Moduls und eines Keybords digital eingespielt hatte. Lediglich das Saxophon nahm er akustisch auf und mischte die Tonspur hinterher mit dem Rest ab. "Alle wirklich Großen sind längst tot!", pflegte Moeller manchmal zu sagen, weil er das für ein Bonmot hielt. Und er dachte dabei an Charlie Parker, Miles Davis, John Coltrane und vielleicht noch an Duke Ellington. Und er fragte sich regelmäßig, warum er selbst eigentlich noch lebte. Vielleicht, weil du dir einen gesünderen Beruf gewählt hast, dachte er dann.
Moeller hatte irgendwann in grauer Vorzeit mal vor der Alternative gestanden: Entweder ein unsicheres Leben als Musiker oder ein sicherer Job im öffentlichen Dienst.
Und weil er irgendwo in seinem tiefsten Inneren gewusst hatte, dass er eben doch nicht so groß wie Coltrane war, hatte er den sicheren Weg gewählt. Er war Polizist geworden.
Aber war der Kampf gegen das Verbrechen nicht auch etwas, wofür es zu leben lohnte? Der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und die Schwachen zu schützen? Moeller musste in diesem Zusammenhang immer an die Batman-Comics denken, die er als Junge gelesen hatte. Die Begeisterung für Batman war eher dagewesen als die für John Coltrane, die Leidenschaft für das Recht und die Gerechtigkeit eher als jene für den Jazz.
So war er jetzt Polizist. Kripo-Beamter, genauer gesagt.
Und im tiefsten Inneren wusste Moeller, dass er mit dieser Arbeit der Menschheit besser dienen konnte, als mit den unfreiwilligen Kieksern aus seinem Saxophon.
Inzwischen hatte er 15 Dienstjahre bei der Kriminalpolizei Lüdenscheid hinter sich. Und er war immer noch Kriminalkommissar in der Gehaltsstufe A12. Weiter war er nie gekommen. Schon von seinem Äußeren her wirkte Moeller ziemlich unangepasst. Sein langes, zu einem Pferdeschwanz zusammengefasstes Haar, der Drei-Tage-Bart und die kaputte Jeans. Moeller hielt sich für einen Nonkonformisten und schob die Tatsache, dass er es nie weiter als bis zum Kriminalkommissar im Dezernat für Tötungsdelikte, landläufig Mordkommission genannt, gebracht hatte, diesem Umstand zu.
Aber wenn er ehrlich war, dann hatte er auch nie einen besonderen Ehrgeiz an den Tag gelegt. Sein Herz gehörte jedenfalls nicht dem Job. Nicht den dicken Akten mit den penibel aufgelisteten Beweisstücken und Indizien. Nicht den seitenlangen Gutachten über Haarreste und Blutspuren und Fasern irgendwelcher Pullover. Sein Herz gehörte dem Jazz, dieser freiesten und unangepasstesten aller Musikformen. Der Jazz war wie er, so empfand er es oft. Und das jazzigste aller Instrumente war