Die Stunde der Wahrheit. Christian Macharski
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Borowka war kaum zu bremsen in seiner Euphorie, während Fredi geistesabwesend auf das Etikett seiner Bierflasche stierte. Die beiden saßen in der Küche seines Hauses, genauer: seines Elternhauses, das er gemeinsam mit seiner Verlobten Sabrina renoviert hatte. Dort war genug Platz für eine ganze Familie – und genau das war Fredis Problem und auch der Grund, warum er Borowkas Erzählungen nur mit einem halben Ohr zuhörte. Seit nunmehr vier Jahren versuchten Sabrina und er Eltern zu werden, doch es wollte einfach nicht klappen. Immer mehr hatte dies in den letzten Monaten zu Belastungen und Streit in ihrer Beziehung geführt, obwohl Fredi sich redlich Mühe gab, immer die genau errechneten Eisprungtermine für den Beischlaf zu reservieren. Einmal hatte er deswegen sogar die alljährliche Fahrt mit der Fußballmannschaft nach El Arenal abgesagt, was ihm viel Kopfschütteln seiner Teamkameraden eingebracht hatte. Fredi fühlte sich inzwischen wie ein richtiger Versager. Selbst Borowka und seine Frau Rita hatten mittlerweile ein vierjähriges Kind, wenn auch aus Versehen.
Fredi schob die düsteren Gedanken, die ihn in letzter Zeit immer häufiger heimsuchten, beiseite, denn langsam begann er sich doch für die seltsame Geschichte des Fremden aus dem Heu zu interessieren.
„Aber wenn der alles vergessen hat, kann der denn dann alleine nach dem Klo gehen oder mit Messer und Gabel essen?“, fragte er neugierig.
Borowka starrte ihn für ein paar Sekunden verdutzt an und machte dann mit der Hand eine Scheibenwischerbewegung vor dem Gesicht. „Sag mal, hast du zu nah an die Heizung geschlafen oder bist du noch besoffen von gestern? Ja klar kann der das. Der kann alles noch wie immer. Der hat nur sein Gedächtnis verloren, bei dem ist quasi im Prinzip die komplette Festplatte gelöscht. Dem seine Erinnerung setzt erst wieder ein ab dem Moment, wo der bei Will auf der Couch wach wurde. Obwohl – an der Schlag mit der Eimer konnte der sich auch noch dran erinnern. Aber davor: Alles weg!“
„Ja, aber wie kann denn so was? Noch ein Bier?“
„Logolektrisch“, sagte Borowka und wedelte mit seiner leeren Bierflasche, „auf ein Bein kann man nicht stehen.“
Während Fredi zum Kühlschrank ging, fuhr sein Kumpel mit ungebremstem Enthusiasmus fort: „Der Dr. Hoppe sagt, dass so was ausgelöst wird von ein traumatologisches Erlebnis. Du erinnerst dich doch, wie wir mal besoffen von Himmerich nach Hause gefahren sind und dabei mit mein guter alter Capri der Jägerzaun von die alte Frau Jörissen umrasiert haben und anschließend bei die im Karpfenteich gelandet sind?! Wie wir am nächsten Morgen hinterm Steuer wach wurden, wussten wir durch der Schock doch auch nicht mehr, was genau passiert war. Und bei der Mann aus dem Heu muss das so ein schlimmer Schock gewesen sein, dass der sein ganzes Leben davor vergessen hat. Das ist total spannend. Der Dr. Hoppe hat ein Studienkollege, der mit ihm zusammen im Lions Club ist, und der hat seine Doktorarbeit über diese dissonz … über diese Art von Gedächtnisverlust geschrieben. Und den hat der heute Morgen angerufen.“
Es ploppte zweimal kurz. Fredi hatte die beiden Bierflaschen geöffnet und kam damit zurück an den Tisch.
Borowka nahm einen tiefen Schluck und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er stieß kurz auf, bevor er fortfuhr: „Der Dr. Hoppe hat so ein paar Untersuchungen mit der Mann gemacht und will den am Montag noch mal zum CT oder MRT oder wie das heißt schicken, für das genau herauszufinden. Aber das war total krass. Der Mann ohne Erinnerung ist supernett und wohl auch ziemlich schlau, jedenfalls kannte der Fremdwörter, die ich noch nie gehört hatte. Und der sieht auch total gepflegt aus. Der hat so grau melierte Haare und ein sauber gestutzter grau-weißer Bart. Und auch ganz normale Klamotten hatte der an. Das ist im Leben kein Landstreicher oder Sittenstrolch oder so.“
„Und der hatte keine Papiere und nix dabei?“
„Nix! Der hatte noch nicht mal Schuhe an.“
„Wahnsinn! Wie heißt der Mann denn?“
Borowka schlug sich genervt mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ja, sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Sein Name hat der natürlich auch vergessen. Die haben sich jetzt dadrauf geeinigt, dass die dem vorläufig Walter nennen, bis die wissen, was mit dem los ist.“
Gerade als Fredi fragen wollte, was nun mit dem Mann geschehen soll, rumpelte es im Obergeschoss. Eine dichte Wolke süßlichen Dufts kündigte Sabrina an, die sich im Badezimmer fertig gemacht hatte und nun auf hohen Schuhen die Treppe hinunterstöckelte. Borowka verdrehte die Augen. Viel zu selten waren diese gemeinsamen Kumpelmomente mit Fredi geworden, seit diese Frau in das Leben seines besten Freundes getreten war. Allein dem gestrigen spontanen Geburtstags-Nachfeier-Ausflug nach Himmerich waren nervige Diskussionen vorausgegangen.
„Wahrscheinlich hatte die Tante wieder ein Eisprung“, dachte Borowka und schaute erstaunt auf, als Sabrina die Küche betrat. Er erkannte sie erst auf den zweiten Blick, weil sie sich sehr aufwendig zurechtgemacht hatte. Die Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, die Schminke dezent, aber dennoch auffällig. Sie trug ein hautenges beiges Businesskleid, das ihre weiblichen Formen perfekt zur Geltung brachte. Dazu eine schwarze Strumpfhose und, wie schon zu hören gewesen war, High Heels. Unabsichtlich entfuhr Borowka ein anerkennendes „Oh, là, là.“
Sabrina quittierte es mit einem geringschätzigen Lächeln und wandte sich an Fredi: „Ich bin dann weg. Es könnte ein bisschen später werden.“
Sie gab Fredi einen Kuss auf die Wange, der trotz seiner Flüchtigkeit einen Lippenstiftabdruck hinterließ, bevor sie mitsamt der Duftwolke durch die Haustür verschwand.
Borowka sah ihr entgeistert hinterher. „Was war das denn gerade? Wie hat die sich denn aufgebrezelt?“
Fredi nuckelte an seinem Bier, sodass er die ersten Worte vernuschelte: „Ach, so ist die in letzter Zeit öfters unterwegs. Seit die der neue Job hat.“
Borowka schien überrascht. „Wie? Ist die nicht mehr bei Wackerzapp auf dem Bürro?“
„Nee, schon lange nicht mehr. Da sieht man mal, wie gut du mir zuhörst. Das hab ich dir bestimmt schon dreimal erzählt. Sabrina hat vor vier Monate über ein Bekannter aus dem Fitnessstudio eine Stelle bei eine große Firma in Geilenkirchen bekommen, die sitzen da im Gewerbegebiet. Die sind international tätig und verkaufen so Spezialteile für Bohrfirmas, sogar bis nach China und Südafrika. Genau hab ich das aber selbst noch nicht kapiert. Auf jeden Fall ist der Job super bezahlt. Die muss aber dafür auch viel arbeiten. Auch schon mal abends. So wie heute, da muss die ihre Chefs zu ein Geschäftsessen mit wichtige Investoren begleiten. Weil die Sabrina ja nicht von hier kommt, ist das eine von die wenigen in die Geilenkirchener Niederlassung, die fließend Hochdeutsch kann. Im Moment muss die sich natürlich noch was anstrengen, weil die noch in die Probezeit ist. Aber die nimmt jetzt schon immer an wichtige Besprechungen teil und soll demnächst sogar auch mal mit auf Dienstreise gehen.“
„Mein lieber Mann“, Borowka pfiff anerkennend durch die Zähne, „Respekt. Wenn ich bedenk, dass Rita bald ihr Zehnjähriges feiert im ,Sonnenstudio Karibik‘. Die hat überhaupt kein Bock auf Fortbildungen oder so. Für die ist nur wichtig, dass die auf der Arbeit rauchen kann.“
Fredi nickte versonnen. „Ich bin ja auch stolz auf die Sabrina. Aber die ist natürlich schon viel weg in letzter Zeit. Überleg mal: Heute ist Samstag! Normalerweise würden wir heute Abend schön gemütlich zusammen die Wiederholung von die große Helene-Fischer-Show gucken. Aber der Job geht nun mal vor. Letztens wie ich vom Training nach Hause kam, musste ich mir sogar meine Kroketten selber warm machen.“
Borowka