Die Stunde der Wahrheit. Christian Macharski

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Die Stunde der Wahrheit - Christian Macharski

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Nummer eines guten alten Bekannten ein: Peter Kleinheinz. Kleinheinz war als Hauptkommissar mittlerweile zum LKA nach Düsseldorf gewechselt und hatte mit Will gemeinsam in den letzten Jahren schon mehrere Kriminalfälle erlebt, nicht immer freiwillig. Mit der Zeit war eine tiefe Freundschaft daraus erwachsen und entsprechend fröhlich meldete sich der Beamte auch am anderen Ende:

      „Will, alter Halunke. Was verschafft mir die Ehre?“ Will war einen kurzen Moment irritiert, weil er seinen Freund meist als grüblerischen Bedenkenträger kannte. Aber diesmal schien der sonst schon mal gerne etwas schroffe Kommissar heiter gestimmt zu sein.

      „Peter, grüß dich, altes Scheißhaus“, gab Will salopp zurück, „ich bräuchte mal wieder dein fachmännischer Rat.“

      Es knackte kurz und heftig in der Leitung, aber dann hörte man wieder den gut gelaunten Kleinheinz. „Aber zieh mich bitte nicht noch mal in eine Sache rein, bei der ich mich verletze. Die Wunden vom letzten Mal sind gerade erst verheilt.“

      „Nein, um Gottes willen“, beschwichtigte Will und verriss dabei kurz das Lenkrad. Nachdem er den Wagen zurück in die Spur gebracht hatte, fuhr er fort: „Es ist Folgendes: Wir haben bei uns im Stall ein Mann aufgegriffen, der nicht mehr weiß, wer er ist. Das hatten wir zwar schon mal öfter, aber bis jetzt war das immer nur der Borowka.“

      Will lachte laut und Kleinheinz stieg sofort mit ein. Nachdem Kleinheinz das Wort „Borowka“ noch einmal schmunzelnd und offensichtlich kopfschüttelnd wiederholt hatte, sprach Will mit ernster Stimme weiter: „Das Problem ist: Keiner kennt der Mann. Ich hab gerade mal überall rumgefragt, aber es gibt noch nicht mal einen, der einen kennt, der einen kennt, der mir was über der Mann sagen kann. Das ist schon sehr seltsam. Der Dr. Hoppe sagt, der Mann hat eine Amsenie mit irgendein komisches Wort davor.“

      „Wahrscheinlich eine dissoziative Amnesie“, tönte Kleinheinz‘ Stimme krachend durch das Smartphone. „Exakt so einen Fall hatten wir auch mal, als ich noch in Frankfurt war. Da haben wir am Bahnhof einen aufgegriffen, der sein ganzes Leben vergessen hatte, dafür aber fließend Englisch sprach. Am Ende stellte sich raus, dass der Mann aus Liverpool kam und nach einem Junggesellenabschied im Frankfurter Kiez besoffen mit dem Kopf auf den Boden geknallt und von seinen Kumpels vergessen worden war. Drei Tage später wurde der wieder abgeholt. Keine Ahnung, ob der sein Gedächtnis seitdem wiedererlangt hat.“

      „Das ist ja super“, sagte Will, „dann bist du ja so eine Art Experte für solche Fälle.“

      „Absolut! Und was noch dazu kommt“, schepperte es durch die Leitung, „ich hab sogar Zeit, denn ich hab ab heute zwei Wochen Urlaub. Und ich bin gerade in Aachen, weil ich letzte Woche einen Job in Roermond abgewickelt habe, wo noch ein paar Formalitäten geklärt werden mussten. Damit bin ich aber durch. Wenn du willst, komm ich später vorbei und mach ein paar Tage Urlaub auf dem Bauernhof. Eigentlich hatte ich vor, mit einem Kollegen klettern zu gehen in der Fränkischen Schweiz, aber der hat sich gestern beim Fußballspielen einen Kreuzbandriss zugezogen. Wenn es euch also nicht zu viel Umstände macht, komm ich euch gerne besuchen. Auch wenn aus eurem ,Hotel Garni‘-Projekt nix geworden ist?!“

      Will war begeistert. „Ach, hör mir auf mit dem Hotelprojekt. Ich bin froh, dass da nichts draus geworden ist. Aber Platz haben wir natürlich immer noch genug. Und Vollpension kann ich dir auch garantieren. Die Marlene flippt aus vor Freude, wenn ich die das erzähle.“

      „Na prima, dann bis später!“

      Heimsuchung

      4

      Dienstag, 25. Juli, 13.28 Uhr

      Will saß auf der Küchenbank neben einem pappsatten Walter, der sich zufrieden über die kleine Wölbung an seinem Bauch strich. „Ich glaube, ich habe in den zwei Tagen, die ich jetzt hier bin, schon etwas zugenommen.“ Beim letzten Wort scheiterte er bei dem Versuch, einen Rülpser zu unterdrücken, was ihm sehr peinlich war.

      Will grinste, während er sich gierig eine randvolle Gabel Kartoffelpüree in den Mund schob. Kauend und schmatzend plapperte er los, ohne sich an den kleinen Kartoffelflocken zu stören, die dabei zwischen seinen Lippen herausschossen: „Da wirst du dich wohl mit abfinden müssen. Die Marlene ist die beste Köchin vom ganzen Selfkant. Warte erst mal ab, wenn die anfängt zu backen. Der ihre Kiwi-Jägermeistertorte ist ein Gedicht. Ganz altes Familiengeheimrezept. Wenn du drei Stück davon gegessen hast, darfst du kein Auto mehr fahren.“

      „Jetzt hör aber auf, Will“, rief Marlene leicht beschämt von hinten. Nachdem Will ihr eröffnet hatte, dass Peter Kleinheinz zu Besuch kommen würde, hatte sie den Herd sofort begeistert wieder hochgefahren.

      Es klingelte an der Haustür und Walter fuhr entsetzt zusammen. Diese Reaktion war nur allzu verständlich, denn mit „Klingel“ war das Höllengerät, das Besuch ankündigte, nur sehr unzureichend beschrieben. Die Lautstärke der Türglocke war so extrem eingestellt, dass man sie auch bis in die entlegenen Stallungen hören konnte, da sich Will und Marlene tagsüber die meiste Zeit auf dem Hofgelände aufhielten. An der Aufgabenstellung, den Klingelton innerhalb des Wohnbereichs moderat einzustellen, waren schon mehrere Elektriker gescheitert. Dem Ehepaar Hastenrath war das egal, sie nahmen den ohrenbetäubenden Lärm schon lange nicht mehr als solchen wahr. Ganz im Gegensatz zu ihrem Hund Knuffi, der in ein irres Kläffen verfiel und wie ein Geisteskranker zur Tür jagte. Auf seinen kleinen Pfoten schlitterte er mehr über die Fliesen, als dass er lief.

      Will schlurfte gemütlich durch den Flur, voller Vorfreude, nach langer Zeit mal wieder seinen Freund Peter Kleinheinz, in die Arme zu schließen. Das sollte was heißen, denn gemeinhin hielt er nichts von übertriebener Herzlichkeit. Behutsam schob Will mit seinem Gummistiefel den heiser bellenden Knuffi beiseite und öffnete die Tür. Dort stand allerdings nicht Kleinheinz, sondern ein ihm gänzlich unbekannter Mann mit einem irritierten Gesichtsausdruck, was nicht weiter verwunderlich war bei dem Spektakel, das sich gerade in seinen Ohren abspielte. Der Mann trug eine helle Leinenhose, ein Poloshirt von Lacoste, darüber ein dunkelblaues Sportsakko. In der rechten Hand hielt er einen Aktenkoffer mit Zahlenschloss. Will wollte die Tür mit dem Satz „Wir kaufen nix“ schon wieder zuschmeißen, als der Mann einen Ausweis zückte und ihm vor die Nase hielt.

      „Steueroberinspektor Wilfried Nollmann, Finanzamt Geilenkirchen. Ich bin hier, um die angekündigte Betriebsprüfung durchzuführen. Sie gestatten?!“

      Freundlich, aber bestimmt schob er sich an dem verdutzten Landwirt vorbei in den Flur. Als Knuffi sich dem Beamten knurrend in den Weg stellte, blieb dieser stehen. Allerdings weniger aus Furcht, als vielmehr aus Sorge, aus Versehen auf den kleinen Hund draufzutreten.

      Will schloss die Tür und stotterte: „Ich versteh nicht ganz. Was für eine Prüfung?“

      Der Mann sah sich kurz im Flur um und ging dann zu dem kleinen Telefontisch. Er stellte seinen Aktenkoffer darauf ab und ließ die beiden Schlösser aufschnappen. Wortlos blätterte er durch ein paar Unterlagen und zog dann ein amtliches Papier heraus, auf dem der Stempel „Kopie“ prangte. Er richtete sich wieder kerzengerade auf und reichte es Will mit den Worten: „Die Betriebsprüfung, die Ihnen mit dieser Prüfungsanordnung nach §193 Absatz 1 der Abgabenordnung vom 27.06.2017 angekündigt wurde.“

      Will nahm das Blatt zögernd in die Hand und überflog Sätze wie „steuerliche Außenprüfung“, „die Jahre 2014 bis 2016“, „Bereitstellung aller Unterlagen“, „in den Geschäftsräumen des Agrarbetriebs“. Verwirrt gab er das Schreiben zurück und sagte: „Da muss es sich um ein Missverständnis handeln. Ich habe kein Brief erhalten.“

      Mehrere Sekunden standen die beiden Männer sich schweigend gegenüber, bis Wills Blick sich plötzlich, einer bösen Ahnung folgend,

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