Fahlmann. Christopher Ecker
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Meine Frau arbeitete fünf Tage die Woche im Edeka-Lager. Von acht bis zwölf fuhr sie dort eine elektrische Ameise, lud irgendwelche Waren auf und karrte sie in der Gegend rum. Spannte sie ihren Bizeps an, konnte ich trotz Sargtragens nicht mithalten: Zack!, macht es, Susanne presst meinen Unterarm auf die Tischplatte, und Jens gibt ein kränkendes Krähen von sich. Für die vier Stunden Ameise zahlte man Susanne knapp sechzig Mark, nicht gerade viel, aber wenn sie nach Hause kam, zauberte sie stets Schmuggelware wie Kaugummis oder Zahnpasta aus den Jackentaschen. «Täglich gehn so viele Sachen zu Bruch, das fällt gar nicht ins Gewicht.» Sie zuckte mit den Achseln. «Außerdem macht das dort jeder!»
Neben mir tastete Susanne nach der Decke, ich breitete sie über ihren Busen und zog mich auf meine Seite zurück. Meine Füße zeigten nach Westen. Dort schützte mich eine fensterlose Wand voller Bücherregale vor dem Anblick des Beerdigungsinstituts. Sagt er uns, welche Bücher im Schlafzimmer stehen? Ja, das tut er, aber er tut es nicht gern. Hier standen hauptsächlich Science-Fiction- und Kriminalromane, die nicht ins Wohnzimmer durften. Niemand brauchte zu wissen, was ich exzessiv las. Mein Kopf zeigte auf den begehbaren Einbauschrank; er nahm die Ostwand gänzlich ein; Schiebetüren, Mottenkugeln, Klamotten, langweilig. Nordnordwest erhob sich die glückliche Insel meines Lesesessels, hartnord spiegelte sich die Glühbirne der Nachttischlampe in einem vorhanglosen Fenster, südwestlich erstreckte sich das Geröllfeld von Susannes abgelegten Kleidern bis zur Schlafzimmertür. Totgeknüllte Blusen streichelten flugunfähige BHs, Hosen versuchten sich vergeblich aufzurichten, Socken krochen in verknotete Shorts, ich löschte das Licht, über der Wiese hinterm Haus formierten sich helle Punkte zu unbekannten Sternbildern, eine Wolke zerschnitt den Mond, Wolfgang, meine Gedanken entschlossen sich zu einer weiteren Fahrt in der Geisterbahn, ich knipste das Licht wieder an, nahm das Buch vom Nachttisch, war zu müde, um zu lesen, betrachtete das Titelbild. Mitchum sieht einfach nicht wie Philip Marlowe aus. Susanne mochte es ganz und gar nicht, wenn ich ihr solche Sachen erzählte. Das wäre klugscheißerisch. So ein Unfug! «Wenn du wissen willst, was klugscheißerisch ist», hatte ich mich einmal empört, «dann hör dir das an!» Und ich improvisierte: «Dass ich ein Frosch sei, / Behauptetest du. / Das mag wohl sein. / Ich sag nicht ja, / Ich sag nicht nein.» – Susanne dachte angestrengt nach, man konnte förmlich Rad in Rad greifen sehen, und sagte dann: «Du Vollidiot!» Ihre Arbeitskollegen hielten mich auch für einen Vollidioten, aber damit konnte ich leben, beruhte es doch auf Gegenseitigkeit. Ich verstand nicht, wieso Susanne Wert darauf legte, die Mittagspause mit ihren Kollegen zu verbringen. «Kümmer dich um deine Angelegenheiten», hatte sie gesagt, als ich mit ihr darüber reden wollte, «und komm bloß nicht wieder auf die Schnapsidee, mich auf der Arbeit zu überraschen!» Das hatte ich tatsächlich einmal getan – ein Fiasko! Wenige Minuten nach zwölf parkte ich den Leichenwagen unweit des Edeka-Lagers in einem Wendehammer und ging die letzten Meter zu Fuß. LKWs brausten vorbei, es gab keinen Bürgersteig, Steinchen spritzten. Als ich mich dem Schlagbaum näherte, hob er sich automatisch. Dahinter mündete die Zufahrtsstraße in eine rissige Betonfläche, wo Dutzende von LKWs die langgestreckte Rampe des Lagers umschwirrten. Befehle wurden gebrüllt, näher ran, noch näher, stopp, nicht zu nah, ich stieg eine steile Metalltreppe ohne Geländer hoch, öffnete eine Stahltür und befand mich in einer Vorhalle, von der zahllose Gänge abzweigten: Gänge mit Süßigkeiten, Gänge mit Getränkekästen, Gänge mit Dosenfisch, Klopapier und Scheuermilch.
Durch das verzweigte Labyrinth, das mich an die Szenarien erinnerte, mit denen Jens seinen Gameboy fütterte, huschten Ameisen; Gabelstapler kurvten auf den Linien unsichtbarer Schnittmuster durch die fensterlose Halle; Zombies sprangen ab, hetzten zur Rampe, beluden die LKWs. Zombies nannte Susanne diejenigen ihrer Kollegen, «die 150 % arbeiten», sie selbst kam meist «auf 110 %», außer an dem Tag, als sie sich «am Glasbruch» den Zeigefinger aufgeschnitten hatte. Das mit den Prozentzahlen habe ich nie richtig verstanden. Ist auch nicht weiter wichtig. Kann also getrost vergessen werden. «Ich suche eine Frau Susanne Fahlmann.» – «Kantine», sagte das leere Gesicht. «Macht Mittag.» Die Kantine erwies sich als schmaler Schlauch von Raum, der lediglich einer Selbstbedienungstheke und einer Reihe Biertische mitsamt Bänken Platz bot. Zusammen mit mir hatte eine dicke Frau den Raum betreten und füllte ihn nun dünstend aus. Waden wie Keulen, Brüste wie geplatzte Airbags, das Beinfett hing ihr als schlechtsitzender Fleischstrumpf über die Sandalen. Hier also verbrachte Susanne ihre Mittage! Ich sah feixende Gesichter, sah verlebte Gesichter, sah dumme Gesichter (leicht zu erkennen am stumpf vorgereckten Kinn), sah platte Nasen, sah trübe Augen, sah mittendrin meine Susanne.
Sie erschrak, als sie bemerkte, wer da hinter den Rückenfalten der Fetten hervorspähte, hatte sich jedoch gleich wieder im Griff und winkte mir zu. Mit eingezogenem Bauch quetschte ich mich an der lawinengleichen Erscheinung vorbei, grüßte tapfer in die Runde, setzte mich zu Susanne und schnorrte aus Verlegenheit eine Zigarette von einer der Plattnasen. Stille. Seit ich mich an den Tisch gesetzt hatte, redete keiner mehr. Susanne aß hastig ihren Tomatensalat, ohne den Blick vom Schälchen zu heben. Neben ihr saß ein junger Mann mit weißem Haar. Im Unterschied zu den übrigen Tischgenossen beobachtete er mich scharf, fast abschätzend. Das war wohl dieser Wolfgang, der immer bei uns anrief. Rief er an, klang Susannes Stimme anders als sonst. Sie lachte zu viel und zu laut, und kam sie danach zurück ins Wohnzimmer, machte sie ein Gesicht, als hätte sie etwas zu verbergen; aber weil es schon viele Gespräche über meine «krankhafte Eifersucht» gegeben hatte, riss ich mich zusammen, ließ den Albino weiterglotzen und schritt selbst dann nicht ein, als er meine Frau «Susi» nannte. Sein «Susi» klang nach Ehebruch. Ich drückte die Zigarette in einem Unterteller aus, setzte den Weißhaarigen an die Spitze der Schwarzen Liste und sagte kühl und beherrscht: «Schatz, wir müssen los!» Noch niemals zuvor hatte ich Susanne «Schatz» genannt.
Sie bewegte sich im Schlaf, drehte sich auf die rechte Seite, die Decke rutschte von der Schulter, und die unterbrochene Linie der Wirbeldornfortsätze straffte die Haut zwischen den Schulterblättern: eine Reminiszenz an unsere Sterblichkeit in Knochensprache. Ich deckte ihren Rücken zu. «Du bist noch wach?», fragte sie halb im Schlaf. Ich nickte. Dann fiel mir ein, dass sie mein Nicken nicht sehen konnte, und flüsterte: «Ja, aber ich mach jetzt das Licht aus.» Die Nachttischlampe erlosch, und während sich nordnordwest die beleibte Kontur des Lesesessels aus der Schwärze schälte, erinnerte sich das Schlafzimmer an die fürchterliche Heimfahrt. «Wenigstens bist du nicht mit diesem Ding vorgefahren», hatte Susanne gesagt, als sie sich auf den Beifahrersitz des Transits schwang. Ich verwandelte den Blinker in eine tickende Uhr, Rückspiegel, Seitenspiegel, ich fuhr an, beschleunigte, überholte einen LKW, schaltete in den zweiten Gang, fragte: «Was magst du an diesen Menschen?» – «Wie meinst du das?» – «Die nennen dich Susi.» – «Ja, und?» – «Was ist ein Susi?» – «Hahaha!», ärgerte sich Susanne, starrte aus dem Fenster. Ich musterte sie verstohlen von der Seite: Sie sah großartig aus. Tu es endlich! Jetzt mach schon, du Feigling! Und ich gab meiner Stimme diesen nachsichtig herablassenden Tonfall, den Susanne so hasste, und fragte: «Sag mal ehrlich! Würdest du auch gerne von mir Susi genannt werden?» – «Ach, halt die Klappe!»
Ihr Umgangston war merklich rauer, seit sie mit diesen Menschen zusammenarbeitete. Wie gerne hätte ich sie nun gefragt, ob sie allein wegen Jens bei mir bliebe – aber was, wenn sie ja sagte? «Es sollte eine Überraschung sein.» – «Klasse.» – «Das mach ich jetzt täglich.» – «Klasse.» – «Ich bring Heinz mit und wir tragen dich im Sarg raus.» – «Toll», sagte Susanne und versuchte sich an einem Lächeln. Ich akzeptierte das Friedensangebot und schlug in gespielter Begeisterung vor, Jens von der Schule abzuholen. Der habe nämlich keine solchen Schwierigkeiten mit Leichenwagen wie sie, und diese unbedachte Äußerung, Zigarette, brachte das Fass, Glas Milch, beinahe wieder zum Überlaufen, Glas Milch und Zigarette … jetzt. Vier tastende Schritte West. Vier zaghafte Schritte Süd. Umrunden Sie das Bett, ohne sich die Schienbeine zu prellen, und nehmen Sie Kurs auf die Tür im Südosten des Schlafzimmers! Ich hob die Füße kaum vom Boden, Spitzbergen, Spitzbergen, wir fahren nach Spitzbergen, meine Hausschuhe bahnten sich, kleine Eisbrecher, den Weg durch Susannes Krempel, im Flur harrte ich lauschend