Fahlmann. Christopher Ecker
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Dort rauchte ich eine milde Zigarette (die Senior Service spare ich für feierliche Momente auf), trank die Milch in kleinen Zügen, gut gegen Sodbrennen, unten ging die Klospülung. Mutter war noch wach. Oft hörten wir sie pinkeln: mit sattem, unverklemmtem Strahl. Susanne: «Das macht die extra!» Ich: «Quatsch. Das hat sie früher nie gemacht. Wahrscheinlich lässt sie die Klotür offen, seit sie allein lebt, und vergisst, dass sie dadurch den Wohnungsflur in einen Resonanzkörper verwandelt.» Das Rauschen erstarb in den Rohren, und das Knistern der Zigarette wurde zum einzigen Geräusch der Nacht. Gegenüber erfüllte bläuliches Flackern Onkel Jörgs Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Mutter hatte sich immer über «Onkel Jörgs Filme» aufgeregt. «Wir spielen nur Karten», rechtfertigte sich Vater. – «Von wegen!» Mutter lächelte anzüglich. «Ich weiß doch, was ihr treibt, wenn ihr drüben die Vorhänge zuzieht!» Es passte nicht zu Vater, dass er sich mit seinem Bruder Filme wie Das fröhliche Fotzentrio ansah. Der Titel ist keine Erfindung von mir. Ich hatte die Hülle dieses Films als Kind unter Onkel Jörgs Kommode entdeckt: Zwei splitternackte lächelnde Frauen zogen einer ebenfalls nackten Schwarzen, die sich spreizbeinig zwischen ihnen bückte und dem Betrachter zuvorkommenderweise das Hinterteil zukehrte, die Arschbacken auseinander.
Kaum vorstellbar, dass mein verklemmter Vater sich so etwas ansah! Normalerweise machten ihn bereits Kussszenen verlegen: Er verließ das Wohnzimmer, wenn ich mit Mutter Drei Engel für Charlie ansah (hier wurde lange und ausgiebig geküsst) – und dann heimlich rüber zu Onkel Jörg, fröhliches Fotzentrio und hoch die Tassen! Unten klapperte Katzentür Nummer Eins. Kam Vater aus dem Bad, hatte er – im Gegensatz zu Mutter – ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Katzentür Nummer Zwei klapperte auf unserer Etage, und sofort schnurrte Om um meine Beine und rieb den Kopf mit berechnender Zärtlichkeit an den Waden, bis ich mich seiner erbarmte und einen Schluck der Milch in eine Untertasse gab. Kaum stand sie vor dem Kater, verlor er das Interesse daran und begann stattdessen seinen Schnurrbart zu putzen. Wegen dieses auffällig buschigen Barts hatte ich ihn Albert Schweitzer nennen wollen. Das schien mir passend. Außerdem gefiel mir die Vorstellung, dass sich mit dieser Namenswahl die Wiese hinterm Haus in Lambaréné verwandeln würde, Regionshauptstadt in Gabun, 26.300 Einwohner, Moschee, modernes staatl. Krankenhaus, Flughafen. Aber Susanne hatte natürlich was dagegen gehabt, die blöde Kuh!
Der Kater unterbrach das große Reinemachen, um mich hinter einem hochgereckten Hinterbein hervor argwöhnisch zu mustern. «Milch», erklärte ich geduldig auf die Untertasse zeigend. «Feine Milch. Das mögen Katzen.» Ich nahm einen tiefen Zug, löschte die Glut im Aschenbecher. Die Augen des Katers reflektierten das schwache Licht in der Küche. Dann senkte er den Blick, die Pupillen wurden groß und dunkel, und mit einem zum Fragezeichen gekrümmten Schwanz stolzierte er Richtung Kinderzimmer davon, wo er, wenn er nicht auswärts schlief, seine Nächte verbrachte. Er weckte Jens nie auf. Selbst morgens ließ er ihn weiterschlafen und machte vor unserer Schlafzimmertür solange Rabatz, bis der gute alte Onkel Dosenöffner, der auch sehr zäh sein konnte, endlich aufstand, um dem Pelzwecker eine stinkende Büchse Katzenfutter zu öffnen. Lassen Sie sich nicht von der Munterkeit des Stils täuschen. Erst später entdeckt man im Anfang den Plan. Sagen die, die es wissen müssen. Hoffen wir, sie sind ehrlicher, als ich es bin.
Fahlmann stellte das Glas auf einen Stapel schmutzigen Geschirrs, leerte den Aschenbecher, nahm sich vor, morgen den Müll runterzubringen, Mittwoch, im Flur stand der Kater und starrte. Fahlmann, Mittwoch, starrte zurück. Mit einem empörten Maunzen verschwand Om in Jens’ Zimmer. Mittwoch. «Sie sind Philip Marlowe, ein Privatdetektiv?» – «Sehn Sie nach.» Als ich Montemar Vista erreichte und es in dem Kriminalroman bereits zu dämmern begann, hielt ich das für einen guten Anlass, das Licht zu löschen und mir meinen Tod vorzustellen. Heinz stehen die Tränen in den Augen. «Oh, Gott!» Er wendet sich ab und legt Onkel Jörg den Kopf auf die Schulter. «Wieso er? Wieso ausgerechnet er?»
Sogar im Halbschlaf merkte ich, dass die Dialoge eine Spur zu pathetisch ausfielen, hatte aber weder Zeit noch Lust, mich um solche Bagatellen zu kümmern, denn schon wirft sich eine weinende Susanne über den Sarg. Vater (das Gesetz von Zeit und Raum hat längst seine Gültigkeit verloren) nimmt Mutter in den Arm: «Er war ein guter Junge!», die Sonne verfinstert sich, eloi, eloi, lema sabachtani, und lässig auf einen Grabstein gestützt prahlt Winkler vor den versammelten Reportern: «Naturellement, mesdames et messieurs! Natürlich hat er mich autorisiert, seine Werkausgabe herauszugeben.» Aber das ist noch gar nichts! Während meiner Schulzeit hatte mich meine überschwängliche Begeisterung fürs Dramatische zu weitaus gewagteren Szenen hingerissen. Klassenarbeit Erdkunde, splitternd fliegt die Tür auf, ein Polizist mit vernarbtem Gesicht hechtet ins Klassenzimmer der 8a, rollt sich geschickt ab und lässt die Mündung seiner Waffe über die Bankreihen streichen. Hinter ihm erscheinen weitere Polizisten. «Wer von Ihnen ist Georg Fahlmann?» Ein hagerer, finster dreinschauender Kommissar im Trenchcoat tritt vor. – «Wer will das wissen?», frage ich. – «Wir brauchen Ihre Hilfe, Fahlmann!» Plötzlich fährt er herum und schnappt: «Wer ist dieser Knilch?» – «Das ist Herr Schöppke.» Ich mache eine abfällige Handbewegung. «Ein Erdkundelehrer.» Urkunden werden überreicht, Handgranaten detonieren, Maschinengewehrgarben zerfetzen meine Mitschüler, ich steige in den wartenden Jeep. Bereits auf dem Lehrerparkplatz fallen die ersten Schüsse. «Das ist ein Hinterhalt. Sie hat ihnen alles verraten. Man darf niemals – Papa?» Ich schaltete das Licht an. Es war Jens.
«Was gibts?»
«Om stinkt.»
«Aha.» Wieso steht er auf meiner Bettseite, obwohl sich Susannes Seite näher an der Tür befindet? «Nach was stinkt er denn?» Jens kicherte vielsagend, und ich brachte erst ihn ins Bett, packte dann Om im Genick, trug ihn ins Bad und duschte sein Hinterteil mit lauwarmem Wasser ab. «Was warn los?», fragte Susanne, als ich mich wieder hinlegte.
«Schlaf weiter!», sagte ich.
«Gute Nacht!», sagte ich.
Pause. «Gute Nacht!», sagte ich etwas lauter.
«Gute Nacht!», sagte Susanne.
«Haben Sie Interesse, für das FBI zu arbeiten?», fragte der hagere Kommissar und sah mich abwartend an.
3Ich bin der einzige Mensch, über den ich nie einen Roman schreiben könnte, bekannte ich in jenem Sommer meinem Notizbuch. Ich habe keinen hervorstechenden Charakterzug, nichts, bei dem der Leser sagen würde: «Aha, das ist Georg Fahlmann!» Ich bestehe aus unverbundenen Taten, Gedanken, Ängsten und einem dürren aber leidlich gesunden Körper. Ich stehe morgens am Fenster und werde nicht wach, ich schlafe abends schlecht ein und stelle mir meine Beerdigung vor. Ich habe nicht einmal einen Tic wie jede siebte Figur bei Thomas Mann, und oft weiß ich nicht, wer oder was ich eigentlich bin. Ich verschwende viel Zeit meines ereignislosen Lebens, mich an ereignislose Zeiten zu erinnern und mir etwa zu überlegen, wieso es mich belastet, dass ich im Sportunterricht nie die Kletterstange hochgekommen bin. Nachtrag: Eben ist mir noch jemand eingefallen, über den ich nie einen Roman schreiben könnte: unser neuer Briefträger.
Das letzte Wort erhebt sich in Großbuchstaben über die zittrigen Krakel meiner Handschrift. Und dass es mit zornigen Strichen eingekästelt ist, zeigt mir, wie schwer mir der Mann damals zusetzte. Heute erinnere ich mich der Gefühle und Empfindungen meines früheren Ichs mit gewisser Wehmut, obiger Notiz, nebenbei bemerkt, mit ungläubiger Scham: Die Klage, ein ereignisloses Leben zu führen, erscheint mir leichtfertig, denn nach allem, was mir inzwischen widerfahren ist, hat die Verknüpfung der Worte «ereignislos» und «Leben» einen fast idyllischen