Fahlmann. Christopher Ecker
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«Entschuldigen Sie», begann ich zaghaft, «ich muss mir die Post immer in der Nachbarschaft zusammensuchen.» Das Ärgernis schnaufte, es war sehr jung, es war sehr fett, es sah mich verständnislos an. Frau Kundel glotzte aus dem Schaufenster der Metzgerei; ich nickte ihr freundlich zu. Dem Briefträger hing hellblondes, verschwitztes Haar in die Stirn, über seiner dicken Oberlippe spross das schüttere Bärtchen eines Dreizehnjährigen, und dass er trotz akuter Atemnot eine Zigarette rauchte, machte mich betroffen. Ebenfalls milde stimmte mich sein kränkliches Aussehen: Unter den Fischaugen glänzten feuchte Ränder, das bartlose Fleisch der Wangen und des Halses war leicht gerötet. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und fragte: «Ihre Post zusammensuchen?» Ich würde ihn gar nicht erst auf die Schwarze Liste setzen. «Bei den Nachbarn», erklärte ich. «Die Post ist nicht in meinem Briefkasten.» – «Ah, ich mach was falsch.» Er seufzte so ausgiebig, dass sich seinem Doppelkinn die Gelegenheit bot, nach dem Krawattenknoten zu schnappen. «Sie ahnen nicht, wie oft mir so was passiert. Tut mir sehr leid. Ist mein Fehler. Ich versprech Ihnen, es wird nie wieder vorkommen!» – «So schlimm ist es auch nicht. Ich wollte nur …» – «Es wird nie wieder vorkommen! Wie war Ihr Name, sagten Sie?» – «Fahlmann. Georg Fahlmann.» – «Fahlmann», er schaute an mir vorbei, «vom», er las die Beschriftung des Transits: «Beerdigungsinstitut Georg Fahlmann.» Erst amüsierte es mich, dass er Gebr. für eine Abkürzung meines Vornamens hielt, aber dann begriff ich die Tragweite dieser Fehlleistung. Ich hätte ihn nie mit dem Transit abfangen dürfen! Nun hatte sich nämlich der durchaus klug kombinierte Zusammenhang Georg-Fahlmann-fährt-einen-Leichenwagen-auf-dem-sein-Name-steht in den Windungen seines Gehirns verhakt. Rasch versuchte ich zu retten, was noch zu retten war.
«Das mit dem Auto hat nichts zu sagen. Ich wohne zwar neben dem Beerdigungsinstitut Gebrüder Fahlmann», hierbei zeigte ich auf den Transit, «habe dieses Auto», ich zeigte wieder auf den Transit, «aber nur geliehen. Fahlmann. Das ist mein Name. Georg Fahlmann. Nebenan. Ich wohne ne-ben-an. Neben dem Institut. Also die Post bitte ne-ben-an in den Briefkasten werfen!» Der Briefträger quittierte den Dammbruch des Stausees von Informationistan mit einem Kopfnicken. Dann meinte er ernst: «Ich habe Post für Sie, Herr Georg Fahlmann», wobei es ihm in rührender Weise misslang, seiner Stimme einen amtlichen Tonfall zu geben. Er kramte in der Umhängetasche. Wieso benutzt er kein Wägelchen wie alle Briefträger? Die Tasche war vollgestopft. Außerdem stand eine Flasche Sprudel darin. Waldquelle. Mit wenig Kohlensäure. Der Anblick dieser Flasche erschütterte mich so sehr, dass ich mit einem harschen «Werfen Sie mir die Post doch einfach in den Briefkasten!» in den Transit stieg.
Am Nachmittag holte ich die Post bei Onkel Jörg ab.
«Über was regst du dich eigentlich so auf?», fragte Susanne.
«Ich rege mich darüber auf, dass ich mich nicht mehr über etwas aufregen kann, über das man sich eigentlich aufregen müsste. Aus irgendwelchen sentimentalen Gründen …»
«Wer ist man?»
«Man bin immer ich.» Man stand am Küchenfenster, sah aber nicht hinaus, sondern Susanne und Jens an, die frühstückten. «Ich rege mich darüber auf, dass die Post nicht kommt.»
«Aber du regst dich nicht mehr über den Briefträger auf.»
«Nein. Irgendwie tut er mir leid.»
«Weil er so fett ist?», fragte Jens aufgeregt.
«Auch deshalb», sagte ich.
«Und die Sprudelflasche?», hakte er nach.
«Die hat dem Fass die Krone ins Gesicht geschlagen.»
Jens lachte übertrieben, um zu zeigen, dass er sich auskannte. Sie quälten ihn seit einigen Wochen mit Sprichwörtern. Wer im Glashaus sitzt, fragte die linke Spalte, und in der rechten musste mein Sohn unter so verlockend blöden Angeboten wie ist seines Glückes Schmied oder hat Gold im Mund die richtige (aber ernüchternd langweilige) Satzhälfte aufspüren. Seine Lehrerin strengte sich mächtig an, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verblöden. Wie konnte sie einem Siebenjährigen Unfug vom Kaliber eines einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul beibringen, ohne ihm zu erklären, dass es sich bei einem Gaul um ein Pferd handelt, dass man das Alter eines Pferds am Gebiss bestimmen kann, dass man also nicht schauen darf, wie alt das Pferd ist, das man geschenkt bekommt, um den Schenker nicht zu kränken, und so weiter, und so weiter, und so weiter.
«Einem geschenkten Barsch», sagte ich, «schaut man nicht in den …»
«Georg!», sagte Susanne.
«Arsch!», brüllte Jens. Kakaogetränkte Krümel flogen aus seinem Mund.
«Nicht mit vollem Mund sprechen!», rief Susanne.
«Glashaus währt am längsten», ergänzte ich selbstgefällig und zwinkerte Jens dabei zu.
Ich hätte damals gerne mehr Zeit mit ihm verbracht, aber morgens musste er in die Schule, und sie brachten ihm Blödsinn bei, nachmittags machte er mit «Oma Marianne» blödsinnige Hausaufgaben, um den vormittäglichen Blödsinn zu vertiefen, und danach spielte er draußen mit Florian, bis um sechs Uhr die Glocken läuteten. Abends hingegen las ich ihm vor oder bemühte mich, ihm das beizubringen, was seine Lehrerin nicht wusste oder für unwichtig hielt. Zum Ereifern gab es für mich kein besseres Thema als Jens’ Hausaufgaben. Susanne regten andere Dinge auf. Drei Häuser weiter hielten sie Hühner. Kurz nach seiner Einschulung hatte Jens herausgefunden, dass er den Hahn zum Krähen bringen konnte, indem er mit meiner Faschingstrompete trötete, und eines Morgens ließ er sich von mir wecken, und wir schlichen um vier Uhr dreißig zum Flurfenster, Jens trötete, und kurz darauf hörten wir ein fassungsloses Krähen. Der Hahn gab keine Ruhe mehr, bis es hell wurde. Susanne hatte es unverantwortlich gefunden, dass ich «solche Aktionen» förderte, aber wie oft im Leben bietet sich einem schon die Gelegenheit, einen Hahn zu wecken?
«Irgendwann werde ich es ihm beigebracht haben.»
«Wem was?», fragte Susanne.
«Dem