Fahlmann. Christopher Ecker

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Fahlmann - Christopher Ecker

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      «Und ich deine.» Ich trat hinter sie, hob ihr Haar an und küsste sie ins Genick: Ihre Haut war zart und roch gut. Jens kicherte, wie immer, wenn sich seine Eltern küssten. Susanne lächelte, ich stellte mich wieder ans Fenster, drüben rannte eine nackte Gestalt durch die Wohnung. Die Etage über dem Beerdigungsinstitut hatte beide Augen weit aufgerissen: Onkel Jörg lüftete gleichzeitig Wohn- und Schlafzimmer. Das linke Fenster zeigte mir Couch und Fernseher, das rechte ein zerwühltes Doppelbett. Die nackte Gestalt hatte das Schlafzimmer verlassen, doch leider war sie nicht mehr im Flur hinter der offenen Wohnzimmertür erschienen: Das Badezimmer (von dessen Existenz nur der rostnasige Propeller eines Ventilators zwischen den Fensteraugen kündete) hatte sie verschluckt.

      «Onkel Jörg läuft nackt durch die Wohnung!», sagte ich.

      «Wo?» Jens presste die Nase an die Scheibe.

      «Im Schlafzimmer. Vielleicht sieht man ihn gleich wieder.»

      Doch leider blieb Onkel Jörg verschwunden. Nach einer Weile setzte Jens sich wieder enttäuscht an den Frühstückstisch und erweckte den Anschein, das letzte Drittel des Brötchens aufzuessen.

      Heinz kurvte in den Hof. «Heinz ist da», sagte ich.

      «Nackt?», fragte Jens hoffnungsvoll.

      «Nein. Viel zu früh. Ich hab erst zwei Tassen Kaffee intus.»

      Heinz nahm den Helm ab, brüllte etwas zu mir hoch.

      Ich öffnete das Fenster. «Was ist denn los?»

      «Früher Termin im Evangelischen. In einer halben Stunde will ich dich im verfickten Büro sehen. Und zieh dir was an, du fauler Sack! Im Schlafanzug nehm ich dich nicht mit.»

      «Das Schildchen schaut aus deinem T-Shirt», sagte Susanne.

      «Macht nix», sagte Jens. «Hast du gehört? Heinz hat ein schlimmes Wort …»

      «Das macht wohl was», sagte Susanne.

      «Was heißt ‹intus›?», fragte Jens.

      Ich sah wieder aus dem Fenster. Mein Roman machte mich wahnsinnig. Es war eine solche Tortur, berühmt werden zu wollen. Allein deshalb verkniff ich mir heldenhaft dümmliche Ideen und alberne Scherze und verzichtete sogar auf lustige Lieder und Gedichte: Das harte Los desjenigen, der endlich ernst genommen werden will, aber nicht weiß, ob es sich überhaupt lohnt, ernst genommen zu werden. Jens zupfte an meinem Ärmel. «Hast du ihn nochmal gesehen?»

      «Nein. Onkel Jörg ist jetzt bestimmt schon angezogen.»

      «Bad ist frei!», rief Susanne.

      Ich checkte mit Jens noch flott den Inhalt des Ranzens, dann betrat ich das Badezimmer, ein Schemen im beschlagenen Spiegel, feuchte warme Luft, das Pappröhrchen einer Klopapierrolle am Halter, Haare, überall Haare, ich zog die Spülung, man konnte Susannes Haare wie Tang aus der Badewanne fischen, ein nasses Handtuch in der Ecke, ich hob es auf und hängte es an den Haken. Es ist noch ein Tasten, aber ich verfolge ein Ziel, ja, zum ersten Mal seit langer Zeit verfolge ich ein Ziel. Kleine Pause. So, hier bin ich wieder. Machen wir weiter! Seit diesem Mittwochmorgen nahm mein Leben zunehmend groteskere und beunruhigendere Formen an. Der zaghafte Auftakt meiner Schwierigkeiten, den ich vor der gläsernen Theke einer Bäckerei zu lokalisieren glaube, ist dem Lösen der Leinen eines Hochseeschiffs vergleichbar, und mit gedrosselter Geschwindigkeit verlässt es den Hafen, um in tieferen, fast schwarzen Gewässern allmählich Fahrt aufzunehmen.

      Natürlich weiß ich, dass es unmöglich ist, einen dermaßen vagen Zeitpunkt wie den «Auftakt meiner Schwierigkeiten» zu bestimmen (sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht), aber jedes Mal, wenn ich über den steil absteigenden Zickzackpfad nachdenke, den mein Leben seither eingeschlagen hat, fällt mir dieser Mittwochvormittag ein, an dem wir so ungewohnt früh mit der Arbeit begannen. Denken heißt vereinfachen, behauptet Strigaljow, und ich glaube in seinem Sinne zu sprechen, wenn ich daraus folgere: Erinnern heißt noch mehr vereinfachen. Im wirklichen Leben gibt es keine Schlüsselerlebnisse. Ein Kind kauft seinem Vater ein rotes Plastikfeuerzeug zum Geburtstag, findet aber erst als Erwachsener heraus, dass sich dieses Geschenk unmerklich in die Drehscheibe eines Sackbahnhofs verwandelt hat, eine dieser Plattformen, auf der die Lokomotive mal in diese, mal in jene Richtung geschwenkt wird. Oder beginnt die Drehscheibe erst im Moment des Erinnerns zu rotieren? Ich weiß es nicht. Feste Meinungen lösen in mir ein gewisses Unbehagen aus, vor allem, wenn sie mit meiner Person verknüpft sind. Letzten Endes weiß ich nur, dass dieser Mittwoch ein gewöhnlicher Arbeitstag war. Vielleicht fing alles früher an?

      Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr verstricke ich mich, Schiffe, Drehscheiben, Lokomotiven, wahrscheinlich ist es sinn- und ergebnislos, überhaupt einen Anfang finden zu wollen (einen Anfang für was auch immer), werfen doch alle Geschehnisse ihre Angelleinen weit in die Vergangenheit zurück: Es handelt sich um dicke, straff gespannte Schnüre, die sich in der Zeit verlieren. Ihre Haken sind fest verankert, und auch dieser eine Mittwochmorgen baumelt an einem Haken, den ich mir gerne rostig und vom Salzwasser zerfressen vorstelle. Ich tauche am Seil entlang die Zeit hinab, Heinz hupte, ich band die Schnürsenkel, mit jedem Schwimmstoß erinnere ich mich genauer, rieche die Abgase des Transits, dessen Motor schon seit einigen Minuten läuft, tauche tiefer, das Wasser wird kühler, noch tiefer, und schon höre ich das Knirschen des Schotters unter den Sohlen, hörte es laut und ganz nah.

      Heinz hupte erneut, ich stieg zu ihm in den Transit und schnallte mich an. «Wegen mir», sagte ich, «kanns losgehen, Keule.» Er mochte, wenn ich ihn «Keule» nannte (das erinnerte ihn an seine Zeiten als Kraftdreikämpfer). Er hieb mir mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, trat das Gaspedal durch, ließ gleichzeitig den ersten Gang kommen. Reifen schleuderten Schotter auf, der Transit rumpelte über den Bürgersteig, legte sich quietschend in eine Rechtskurve: Wir waren unterwegs. Heinz hielt mir seine Zigaretten hin. Bei dieser Geste handelte es sich um einen in Ehren ergrauten Scherz. Ich hatte nur ein einziges Mal von seinen Filterlosen geraucht, und Heinz freute sich noch heute über meinen Hustenanfall. Ich tat so, als dächte ich über das Angebot nach (auch das gehörte zum Ritual) und lehnte dankend ab. «Na, nimm dir schon eine», drängte er.

      «Für mich ist es noch zu früh zum Rauchen.»

      «Ach, Quatsch!» Heinz hielt die rotglühenden Drahtkreise des Zigarettenanzünders an die Spitze der Gauloises. «Zum Rauchen isses nie zu früh!» Aschezähne fraßen sich ins weiße Papier, Heinz inhalierte, behielt den Rauch lange in der Lunge und ließ ihn mit einem wohligen Seufzen aus den haarigen Nasenlöchern strömen. «Du weißt gar nicht, was dir entgeht, Kleiner!» Maulfaul zuckte der Kleine mit den Achseln, Heinz schaltete das Radio an, fluchte unflätig, schaltete es wieder aus, langweilte sich demonstrativ und bedachte mich mit vorwurfsvollen Seitenblicken.

      Aber ich war weder wach noch gesprächsbereit.

      «Halt mal kurz an der Bäckerei.»

      «Yup!» Heinz warf einen Blick in den Rückspiegel, trat auf die Bremse. «Na, da glotzt ihr blöd, ihr Mistböcke!» Der Transit kam mit tickender Warnblinkanlage mitten auf der Straße zum Stehen. «Is nich mein Bier, wenn irgendwelche Scheißkerle das Trottoir zuparken!» Heinz zog die Handbremse; den Motor ließ er weiterlaufen. Zwei ältere Damen unterbrachen ihr Schwätzchen und spähten zu dem lauernden Leichenwagen hinüber.

      «Willst du auch was?», fragte ich.

      «Nö», sagte Heinz. «Bin fett genug.»

      «Wie du meinst.» Ich schlug die Wagentür zu, schlüpfte zwischen Stoßstangen durch, und endlich

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