Fahlmann. Christopher Ecker
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«Noch ein Bier?», hatte Achim zwei Wochen vor der Lesung gefragt, der nun, nachdem er in rascher Folge drei WG-Mitbewohner verschlissen hatte, wieder sein altes Kinderzimmer in der Vorstadt bewohnte. «Gimlet?», fragte ich. Achim dachte nach. «Gimlet?», fragte ich wieder. «Noch ein Bier und dann nen Gimlet?», schlug er vor. «Okay», sagte ich. «Erzähl weiter! Was machen die Frauen.» Achim hatte Pech mit Frauen, seit wir befreundet waren. Zurzeit lief er einer Achtzehnjährigen hinterher; er würde sie nie erreichen. «Ich sitze mit ihr zusammen und stelle sie mir unentwegt nackt beim Squashspielen vor», gestand er flüsternd. «Wieso beim Squashspielen?», fragte ich. «Wieso nackt?», gab er zurück, und diese spaßhafte Bemerkung verriet mehr über ihn, als er ahnte. Erst kürzlich hatte ich Susanne gesagt: «Der hat sich schon so oft mit der Kleinen getroffen, dass jede Berührung unmöglich geworden ist. Sie erzählt ihm in irgendwelchen überfüllten Schülerkneipen von ihren Lehrern, ihren Eltern, von ihrem jüngeren Bruder, was für Musik hörst du, was sind deine Hobbys, und über diesem ganzen Geplapper wird jede Berührung unmöglich. Wenn sie zum vierten Mal nebeneinander im Kino sitzen, kann er ihr nicht mehr zufällig die Hand aufs Bein legen. Wenn sie zum zehnten Mal nebeneinander durch die Stadt gehen, kann er nicht mehr nach ihrer Hand greifen! Der Zug ist abgefahren.» Es passte also ins Bild, dass Achim die Vorstellung ihrer Nacktheit gleichermaßen beunruhigte wie belustigte, und so, wie ich die Lage einschätzte, würde er mir bald von einer neuen Schnalle berichten, bei der er sich große Chancen ausrechnete, und der ganze Zirkus ginge von vorn los.
Achims Unentschlossenheit zeigte sich auch in seinem Aussehen. Mal ließ er sich Koteletten wachsen, mal ein modisches Kinnbärtchen, mal versuchte er, seine vorstehende Oberlippe mit einem fadenscheinigen Schnurrbart zu kaschieren. Er sah sich unentwegt um wie ein schlechter Schauspieler, der in einem B-Picture einen Spion spielt, schien sich nie ganz wohl in seiner Haut zu fühlen, und der spöttische Ausdruck in den Mundwinkeln war weniger ein Indiz für Arroganz, wie viele meinten, sondern die Folge einer schmerzhaften Unsicherheit in alltäglichen Dingen. Je länger ich über ihn nachdenke, desto deutlicher sehe ich ihn vor mir: Zu kleine Nasenlöcher, Brille, das leicht fliehende Kinn mündet in einen kräftigen Hals mit ausgeprägtem Adamsapfel, Aknenarben. Zog er den Parka aus (ein Kleidungsstück, das er das ganze Jahr über trug), sah man, dass etwas mit seinem Hinterteil nicht stimmte. Es saß zu hoch, wirkte knöchern, war auffällig flach und ziemlich breit; ich verstehe nicht, was Susanne damals in Paris so anziehend an Achim gefunden hatte. Ob er ihr noch gefiel, nachdem er mit ihrer dauerkichernden Freundin das Weite gesucht und uns alleine und verlegen im Hotelzimmer zurückgelassen hatte? «Was machst du denn so», fragte Susanne nach einer Weile. – «Ich schreibe», sagte ich. – «Was schreibst du?» – «Abenteuergeschichten und so Zeugs.» – «Das find ich ja toll. Ehrlich? Kein Witz?» – «Ehrlich …» Und ganz und gar kein Witz!
Seit der Spritztour nach Paris hatte die Zeit ihre Spuren in Achims Gesicht hinterlassen: Falten, Krähenfüße, das Übliche. Außerdem waren seine Wangen ständig gerötet, und früher hatten sie sich nur in aufregenden Situationen verfärbt, an der Tafel im Physikunterricht zum Beispiel, oder als wir auf der Treppe vor der Sacré-Cœur endlich mit den beiden deutschen Mädchen ins Gespräch gekommen waren. Es ist beunruhigend, schreibe ich aus dem hilfreichen Notizbuch ab, mitansehen zu müssen, wie ein Freund altert, wie er fett wird, wie seine Gesichtszüge erschlaffen. Das ist fast so, als trüge man einen riesigen Spiegel mit sich herum, der einem unentwegt zeigt, wie schnell das eigene Leben dem Tod entgegentickt. (…) Allein die Angst, meiner eigenen Vergänglichkeit gewahr zu werden, ist der Grund, warum ich nie zu einem Klassentreffen gegangen bin.
«Geh doch mal mit ihr nackt Squashspielen», hatte ich Achim damals übrigens vorgeschlagen. Konzentriert zog er einem aufgeweichten Bierfilz die Haut ab und zupfte sie Fetzen um Fetzen in den Aschenbecher. «Danke für den Tipp.» Unsere Abende begannen üblicherweise maulfaul. Wir tranken, rauchten, beobachteten die Frauen vom JLB. Doch an jenem Abend, an den ich mich erinnerte, als ich an einem regnerischen Vormittag, genauer gesagt, an dem Vormittag nach der VHS-Lesung, am Küchenfenster stand (hier im Empire-Hôtel gebe ich vor, mich an diesem Vormittag an diesen Abend erinnert zu haben), an jenem Abend in Mollingers Eck also, ich mache es nicht absichtlich so kompliziert, das müssen Sie mir glauben, die Sache ist kompliziert, also an jenem Abend in Mollingers Eck dachte ich an nichts anderes als an Marsitzkys Brief, zwei Gedichte, schnell, schnell, der Brief schlug in meinem Kopf mit den Flügeln wie ein aufgescheuchtes Huhn, schnell, umflatterte es gackernd mein Denken, schnell, schnell, Marsitzky brauchte zwei neue Gedichte «im Stil Ihres schWEINe-essIG-Bandes für eine Anthologie neuer deutscher Literatur», schnell, schnell, gackerte das Huhn in der Weltmaschine, und geheim, geheim. Mit Achim konnte ich nicht über die Sache reden; er war fast ausgerastet, als ich meine bevorstehende Lesung in der Volkshochschule erwähnt hatte. «Trink aus!», sagte ich. «Ich freu mich auf nen Gimlet!» Rascher Überschlag: Drei Bier, jetzt nen Gimlet, dann noch drei, vier Bier, das ist okay. Trinke ich mehr, muss ich auf der Couch schlafen. «Du schnarchst, wenn du besoffen bist», hatte sich Susanne bereits im ersten Jahr unseres Zusammenlebens beschwert. «Und ich hab, weiß Gott, keinen Bock, von einem biergefüllten Aschenbecher angegrunzt zu werden.» Also grunzte der Aschenbecher, wenn er biergefüllt war, diskret auf der Couch, um gegen fünf oder sechs Uhr in der Frühe zu seiner Frau ins angewärmte Bett zu kriechen, wo er die Beine endlich wieder ausstrecken konnte.
«Luftballon», sagte Achim. – «Was?» – «Luftballon dabeihaben», sagte er. – «Versteh ich nicht.» – «Wenn man Saufen geht. Wie in den Bilderwitzen. Da kommen sie auch immer mit einem dicken Luftballon nach Hause.» Achim hatte den Bierdeckel zerrupft und schickte sich nun an, Streichhölzer einzeln aus der Packung zu nehmen, um sie in kleine Stückchen zu brechen, die er ordentlich nebeneinander auf dem Tisch aufreihte. Der Zuckerrand des Gimlets knirschte an meinen Zähnen, ich nahm einen großen Schluck und zeigte Molli, als er in unsere Richtung schaute, einen aufgerichteten Daumen, schnell, schnell, flatternder Brief auf dem Hühnerhof, zwei Gedichte, schnell, schnell. Später mehr davon. Ich muss aufhören. Brauche eine Pause. Hier bin ich wieder! Ich habe nachgedacht. So haut das nicht hin. Ich sitze mit Achim im Leeren. Zwar heißt diese Leere Mollingers Eck, hat also einen Namen, aber das bringt uns nicht weiter. Um die Leere zu füllen, muss ich das Innere der Kneipe beschreiben. Damit ich Sie und vor allem mich dabei nicht langweile, lege ich einfach eine Weltkarte über Mollingers Eck. Passen Sie auf! Das wird klasse!
Man betritt die Kneipe durch eine Tür am Nordpol, rechter Hand räkelt sich der Tresen (Nord- und Südamerika), dahinter geben offene Butzenglastüren den Blick auf Gläser und Humpen frei, langsam, langsam, wir haben Mollingers Eck eben erst betreten, noch bohren sich unsere Blicke in eine Wand aus Zigarettenqualm, dahinter brodeln Gespräche, Gelächter, und hinten ist der Übungsplatz, jemand mit einer vor Aufregung vibrierenden Fistelstimme sagt ein unanständiges Gedicht auf, da ballern die Kanonen, allmählich gewöhnen sich die Augen an den Qualm, die Ohren an den Lärm, alte Sau, du, der Körper an das Gedränge, Prost, Männer, klirrend vereinigen sich Gläser im Zenit des Stammtischs, links des polaren Eingangs verbirgt die Garderobe zwei Tische, Europa, Asien, Achim und ich sitzen immer am europäischen Tisch, der vorsichtige Achim mit dem Rücken zur Garderobe, im optischen Windschatten, ich mit freier Sicht zum Tresen, zum Stammtisch (Australien), du altes Ferkel, und zum Stehtisch, der sich mitten im Raum erhebt wie ein langstieliger Pilz oder, um im schiefen Bild zu bleiben, das ich unbarmherzig zu Tode reite, wie ein winziges, quadratisches Afrika auf einer Stelze; hier trinken die hübschen Frauen vom JLB nach dem Training Diätcola und Orangensaft; und um Ihnen auch wirklich alles zu