Fahlmann. Christopher Ecker

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Fahlmann - Christopher Ecker

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Onkel Jörg gelohnt, jene Fahrt nämlich, als ich mich aus heiterem Himmel an Sonettkränze erinnerte. Bestehen aus fünfzehn Sonetten, rekonstruierte ich, während die Sargkanten den Putz von den Wänden eines Treppenhauses schabten, der Schlussvers des ersten Sonetts ist der Anfangsvers des zweiten und so weiter. Mich interessierte vor allem das Meistersonett, das sich aus den ersten Zeilen der vierzehn Kranz-Sonette zusammensetzte. Erste Worte! Nun wusste ich, was ich Marsitzky schicken würde! Letzte Worte! Die erste Zeile des ersten Gedichts der mond-schein-parade bildet die erste Zeile meines Gedichts erste worte; die zweite Zeile des zweiten Gedichts der mond-schein-parade bildet die zweite Zeile; die dritte Zeile des dritten Gedichts bildet die dritte Zeile und so fort …

      erste worte

      unfug mit dem feuerlöscher

       oben am jong bösch

       peilt gott lotrecht im eimer

       komm mal mit mein kleines

       duseln nattern durch krummbüsche

       steh kopf, schwammenwald!

       schwester inge! ihr busen!

       deine kleine raupe

      Bei den letzten worten verfuhr ich umgekehrt: Die letzte Zeile des letzten Gedichts der mond-schein-parade bildet die erste Zeile, die vorletzte Zeile des vorletzten Gedichts bildet die zweite, die vorvorletzte Zeile des vorvorletzten Gedichts die dritte Zeile – mochte Marsitzky daran verrecken!

      letzte worte

      deine kleine raupe

       oh sagt’s mir wenn ihr’s wisst

       très joli! pierre oiseau:

       plätten maulwurfshügel maulwurfshügel

       nack-tack-tack so dunkel

       hat tee in der tube (7 liter und mehr)

       oben am jong bösch

       unfug mit dem feuerlöscher

      Die kleine Raupe beschloss die ersten worte, die kleine Raupe eröffnete die letzten worte, krümmte sich und bildete einen weichen Kreis. «Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles», sagte die Raupe; und damit steckte sie die Wasserpfeife wieder in den Mund und schmauchte weiter. Auch der unvorhergesehene, aber durchaus willkommene Umstand, dass die letzte Zeile der letzten worte nicht nur identisch mit der ersten Zeile der ersten worte war, sondern auch – oh, Wunder! – mit der ersten Zeile des Eröffnungspoems der mond-schein-parade, gab den ersten beiden Gedichten meiner Nachkregelphase ein spielerisches, fast magisches Flair. Bestürzt über den Stolz auf diese lyrischen Bastelarbeiten brachte ich sie noch in der Nacht zum Briefkasten. Am Fenster. Schlechtes Wetter. Genau … Ich stehe am Fenster. Ich rieche den Geruch der Wohnung, ein Wasserhahn tropft. Mittlerweile hatte der Wind gedreht, peitschte Regen gegen die Scheibe und machte unser Haus zum Unterseeboot, das sich in einer versunkenen Stadt verfranzt hat; gluckernd füllte sich die Thermoskanne; Zeit verging; Großvater rief an: «Hast du die Lesung gut überstanden?»

      «Mehr oder weniger», sagte ich.

      «Du hast ausgezeichnet gelesen.»

      «Danke.»

      «Genieß es doch einfach als Schauspiel!»

      «Das sollte man tun», murmelte ich, hatte aber keine Lust, mit ihm über meine literarische Karriere zu reden, erste worte, letzte worte, ich war gespannt, wie Marsitzky meine Spaßpost aufnehmen würde, und hoffte fast, er würde seiner Sekretärin einen kühlen Brief diktieren, so nicht, Herr Fahlmann, eine knappe Mitteilung, die unsere demütigend einseitige Verbindung beendete. «Das sollte ich wohl tun», sagte ich und lenkte das Gespräch mit einem ungeschickten, aber bestimmten Ruck vom Hauptgleis Fürchterliche Lesung auf ein Nebengleis: «Was liest du zurzeit?»

      «Vera christiana religio. Eine Schrift von 1771.»

      «Du liest religiöse Traktate?»

      «Nicht direkt», lachte Großvater. «Das Buch ist kurios. Momentan erfahre ich zum Beispiel, dass es zwei jenseitige Londons gibt.»

      «Jenseitige Londons?»

      «Ein London der Hölle und ein London des Paradieses. Das ist mit allen Städten so.»

      «Soso», bemerkte ich befangen, «das ist ja wirklich kurios.» Ich gab mir Mühe, noch ein wenig mit Großvater zu plaudern, aber irgendwie fehlte mir der rechte Schwung. Als ich auflegte, starrte mich Om fassungslos an. Ich starrte zurück, er ließ sich seitlich umfallen, streckte einen Hinterlauf in die Höhe und widmete sich voller Behagen einer schamlosen Intimhygiene. Ich sah ihm eine Weile dabei zu, ging dann in die Küche zurück, legte die tropfende Filtertüte behutsam auf den Unrat, der den Deckel des Mülleimers anhob, schraubte die Thermoskanne zu und stellte mich wieder ans Fenster. Dahinter ging das Leben weiter: Heinz und Onkel Jörg luden einen leeren Sarg in den Transit, einen Wulstsarg mit gekernter Blattschnitzung in Eiche, altdeutsch, 3.530,– DM, gehobene Mittelschicht. Kürzlich hatte ich Winkler belehrt: «Wenn jemand einen Sarg bestellt, sieht man sofort die Wohnung des Bestellers vor sich.» – «Man kann vom Sarg auf die Wohnung schließen?» Winkler steckte sich einen Zigarillo an. «Klingt logisch.» Konzentriert betrachtete er die glimmende Spitze. «Wie sind eigentlich eure Preise?» Ich berichtete von unserem billigsten Modell, dem Einfachen Kiefernsarg. «Damit niemand auf die Idee kommt, seine Verwandten darin beerdigen zu lassen, haben wir den Sarg im Katalog mit dem listigen Zusatz zur Feuerbestattung versehen. Er kostet 1.228,– DM. All unsere Preise verstehen sich zuzüglich unvermeidbarer Fremdkosten wie städtischer Gebühren (Friedhof, Sterbeurkunde, Träger) und einer Todesanzeige, deren Formulierung mir obliegt. Ich habe einen Ordner angelegt, da steht alles drin – vom simplen Hier ruhen die irdischen Reste meines zu früh entschlafen Gatten bis zum blitzgescheiten Hodie mihi, gras tibi für den Herrn Doktor Schlauberger.

       Außerdem», zitierte ich aus unserer Werbebroschüre, um Winkler zu beeindrucken, «beinhalten die Preise innerörtliche Überführung, Sargausstattung (Decke, Kissen, Standardbekleidung), Einbetten, Erkennungskreuz, Deckelkreuz, Deckelstrauß, Erledigung aller Formalitäten und Besorgungen sowie Betreuung vor, während und nach der Trauerfeier, was natürlich völliger Stuss ist. Betreuung nach der Trauerfeier! Ich weiß nicht, was Onkel Jörg sich dabei gedacht hat! Etwas teurer als der Einfache Kiefernsarg ist unser Kiefernsarg, hier muss man schon 1.825,– DM berappen. Wesentlich kostspieliger sind altdeutsche Eichensärge und besonders die schicken Designersärge in italienischer Bauart. Ein Nussbaumsarg kostet 4.395,– DM, ein Mahagonisarg 5.330,– DM, aber der absolute Spitzenreiter ist ein Geschoss mit Wänden aus 6 cm starkem Nussbaumholz für satte 8.145,– DM, ein Prachtsarg, in dem sich, laut Katalog, die hohe Kultur eines noblen Stils spiegelt.» Das Thema begeisterte Winkler, aber bei jemandem, der glasige Augen bekam, wenn er von indizierten Splatterfilmen sprach («Einmalige Gelegenheit! US-Export!»), deutete eine unschuldige Frage wie «Was bitteschön ist ein Erkennungskreuz?» auf mehr als nur höfliches Interesse hin. «Eine Art Tafel», antwortete ich, «die anzeigt, wo der Tote liegt, bevor man den Grabstein aufstellen kann.» Winkler machte eine ungeduldige Handbewegung, und ich führte aus, dass man mit dem Aufstellen des Grabsteins einige Wochen warten müsse, bis sich der Boden gesetzt habe.

      Ob es normal ist, dass Menschen, zu denen man kein herzliches Verhältnis hatte, in der Erinnerung rascher zur Karikatur werden? Heute nämlich scheint mir der Schauspieler, der im Schattentheater meines Gedächtnisses den Winkler gibt, ein gnadenlos übertreibender, drittklassiger Schmierenkomödiant zu sein. Er bewegt sich schwerfällig; seine näselnde Sprechweise vermittelt den Eindruck ständigen Gekränktseins; er hängt in den Polstern

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