Fahlmann. Christopher Ecker

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Fahlmann - Christopher Ecker

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ließ damals in mir eine zarte Hoffnung keimen. Aber in aller Öffentlichkeit auf den Gehweg zu kotzen und seinen Sohn vor dem Zubettgehen in den Arm zu nehmen, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Doch ich schweife ab. Vom Fenster aus sah ich also nicht das der Straße zugewandte Ladenschild, sondern nur die auf den Hof hinausgehende Eingangstür des Beerdigungsinstituts, auf deren getöntem Riffelglas ein ehemals weißes Papprechteck die Geschäftszeiten verriet. Rechts neben der Tür starrte ein schwarz verhängtes Fenster ins Leere. An das Institut schloss sich das lang gestreckte Lager an, flaches Dach, getönte Scheiben, und daran fügte sich wiederum die den Hof im Norden begrenzende Garage wie der obere Balken eines F’s.

      Unser eigenes Haus war demzufolge, um dieses Bild beizubehalten, ein Punkt, der das bauchbalkenlose, aus einem schmutzig-grauen Beerdigungsinstitut, einem geduckten Lager und einer breiten Garage bestehende F in eine Abkürzung verwandelte. F kürzte natürlich den Namen «Fahlmann» ab, und dass ich diese Beobachtung bereits als Kind gemacht habe, führe ich heute allein auf mein für Anfangsbuchstaben geschultes Auge der Gewürzbordphase zurück. Als mein Vater starb, stand ich also am Küchenfenster, pustete auf den Kaffee, der noch zu heiß war, um einen ersten Schluck zu wagen, und sah, wie Onkel Jörg das Büro verließ. Schwarz gekleidet und erstaunlich früh – er war wie ich ein Spätaufsteher – ging er zum Leichenwagen, der mit der Schnauze das geschlossene Garagentor beschnupperte. Onkel Jörg brüstete sich häufig damit, der einzige Bestattungsunternehmer der Stadt zu sein, der einen Ford Transit fuhr. «Der ideale Leichenwagen! Passen zwei Särge nebeneinander rein. Wir können die ganze Familie mitnehmen, wenn wir die Kinder zusammenklappen und zu den Eltern in die Särge packen», pflegte er zu scherzen, woraufhin Vaters Gesicht einen leichten Grünstich annahm. Für ihn war das Geschäft mit dem Tod eine ernste, aber, und darauf legte er größten Wert, keine wohltätige Sache. «Wir verdienen den Lebensunterhalt mit dem Ableben unserer Mitmenschen. Aber müssen wir deshalb unsere Dienste verschenken?» Vater ließ die Frage eine Weile im Raum schweben, ehe er sie selbst beantwortete, obwohl es inzwischen keinen gab, der die Antwort nicht auswendig wusste: «Nein und nochmals nein! So schlimm der Tod auch sein mag, so traurig für die Angehörigen, so furchtbar, so schrecklich», seine Stimme schwoll an, als wollte er ein Meer teilen, «so wenig haben wir das Recht, mildtätig zu sein. Und warum nicht? Weil wir im Gegensatz zu den Verstorbenen weiterleben müssen. Und zum Weiterleben braucht man Geld!»

      Selbst durch das geschlossene Fenster hörte ich den Schotter unter Onkel Jörgs Schuhsohlen knirschen; hinter mir schenkte Susanne sich geräuschvoll Kaffee nach; unten sperrte Onkel Jörg die Fahrertür des Transits auf und stieg ein, wobei er wahrscheinlich herzzerreißend stöhnte. Tck, tck, der Schlüssel wurde im Zündschloss gedreht, tck-ahrrrm!, ein Rauchwölkchen kroch aus dem Auspuff, Onkel Jörg stieß aber nicht zurück, sondern begann im Wageninneren mit irgendwelchen Papieren und Schachteln zu hantieren. Und genau in diesem Augenblick kommt Vater um die Ecke des Hauses, das Haar so korrekt gescheitelt, dass ich von hier oben die weiße Linie Kopfhaut zwischen den dunkelbraun gefärbten Haarhälften sehen kann. Zielstrebig steuert er quer über den Hof auf die Bürotür zu, ein Mensch, der es eilig hat. Vaters Bewegungen wirkten immer eine Spur zu hektisch; nur wenn er etwas erklärte, mich tadelte oder seine geliebten Nachrichten schaute, wurde er ruhig. Plötzlich bleibt er kerzengerade stehen, bückt sich in einer schwungvollen, federnden Bewegung, und genau in diesem Moment, als er sich hinter dem Wagen bückt, nestelt Onkel Jörg mit der rechten Hand am Rückspiegel herum. Ich sehe von meinem schräg über dem Transit gelegenen Beobachtungsposten, wie Onkel Jörg sodann die Hand auf den Schaltknüppel sinken lässt und mit erhobenem Kopf in den neu justierten Rückspiegel blickt, der ihm, wie ich in alptraumhafter Gewissheit begreife, einen leeren Hof zeigt. Und in der Tat entschuldigte sich Onkel Jörg später: «Ich dachte wirklich, es wäre frei.» Ich stehe gelähmt am Fenster, mein Vater hat sich nach etwas gebückt, Onkel Jörg blickt in den Spiegel, und mit irrwitziger Geschwindigkeit stößt der Transit zurück.

      Die Reifen schleudern Schotter in die Höhe, ein dumpfer Aufprall, und Vater rudert mit Armen und Beinen durch die Luft, als wollte er zum Mond schwimmen, der als bleiche Muschel am Morgenhimmel klebt. Onkel Jörg erstarrt hinterm Lenkrad, legt den ersten Gang rein, das Getriebe knirscht, erneut wird Gas gegeben, die Hinterreifen entfernen sich von Vaters verkrümmtem Körper, der Motor wird abgewürgt, Onkel Jörg schaut ausdruckslos in den Rückspiegel. Dann steigt er aus, schlägt die Fahrertür zu und verschwindet hinter den schwarzen Scheiben des Hecks.

      «Mein Vater ist tot», sage ich tonlos zur Fensterscheibe.

      Hinter mir lacht Susanne. Unten taumelt Onkel Jörg hinter dem Heck des Transits hervor, sieht die Gestalt am Boden. Seine Miene ist steinern. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Bisweilen fährt er sich mit der Hand über die Stirn. Leise und eindringlich sage ich: «Das stimmt wirklich.» Hinter mir knistert es (Susanne legt die Zeitung beiseite), Stuhlbeine scharren über den Küchenfußboden (Susanne steht auf), unten beugt sich Onkel Jörg über seinen Bruder, greift dem schlaffen Körper unter die Achseln, zerrt ihn auf den Transit zu. Vaters Absätze ziehen Furchen in den Schotter.

      «Was geht denn da ab?», flüstert Susanne neben mir.

      Onkel Jörg sieht sich um. Sein Blick zuckt nach links, sein Blick zuckt nach rechts, sein Blick hebt sich, bleibt am Küchenfenster kleben.

      «Ich weiß es nicht», sage ich, «aber jetzt hat er uns entdeckt.»

      Wir sehen Onkel Jörg an und er sieht uns an, lange und ausdruckslos, ehe er den Körper meines Vaters behutsam auf den Boden sacken lässt. «Halt mal bitte!» Ich drücke Susanne die Tasse in die Hand, öffne das Fenster und rufe Onkel Jörg zu: «Ich komme zu dir runter.»

      Gott sei dank, dachte ich auf dem Weg nach unten, ist Mutter in der Schule. Und: Gott sei dank ist Jens im Kindergarten. Mehr dachte ich nicht. Weder empfand ich Trauer noch ein Gefühl der Leere oder des Verlustes (das kam erst Jahre später und hatte andere Gründe) – und schon knirschten meine Sohlen auf dem Schotter des Hofs. Onkel Jörg lehnte am Leichenwagen, der schwarze Lack ließ ihn blass aussehen. Beim Näherkommen verzerrte sich meine Gestalt in der spiegelnden Heckklappe: Erst stauchte es mich zum Zwerg zusammen, um mich gleich darauf wieder auseinander zu ziehen. Ich sah Onkel Jörg fragend an; dieser bewegte den Kopf verneinend hin und her und wich dabei meinem Blick aus.

      «Der Krankenwagen kommt gleich!», rief Susanne aus dem Küchenfenster. Der Putz unseres Hauses war, wie mir plötzlich auffiel, erheblich schmutziger als der des Beerdigungsinstituts. Außerdem (auch dies nahm ich mit einer Klarheit wahr, als sähe ich es zum ersten Mal) stand unser Haus eine Spur schiefer. Wegen einer Grubensenkung neigte es sich leicht zur Straße hin, als verbeugte es sich höflich vor den Passanten. Es wurde einem schwindlig, wenn man es zu lange anschaute. Ein sich mit den Jahren verbreiternder Riss, den Vater alle paar Monate neu verputzte, kroch aus dem geschotterten Boden über die Hauswand zum Kellerfenster empor, durchschnitt unsichtbar das Glas, und zuckte sodann eine große fensterlose Partie bis zu einem Punkt empor, den Susanne mühelos berühren könnte, hätte sie sich ein kleines Stück weiter aus dem Fenster gelehnt.

      «Ich habe auch bei der Polizei angerufen», sagte sie.

      «Polizei?» Onkel Jörg wirkte besorgt.

      «Ein Unfall», sagte ich leise. «Sie müssen es zu Protokoll nehmen. Du hast ihn nicht sehen können.» Ich ging neben dem Körper in die Hocke und berührte zum ersten Mal seit Jahren meinen Vater. Die Haut am Hals sah aus wie das schlaffe Gummi einer Faschingsmaske. Die Halsschlagader pochte nicht mehr. Vaters Gesicht war glattrasiert, faltig, weich, ich musste an ein ungekochtes Hähnchen denken. Irgendjemand sollte ihm die Augen schließen. Ich konnte das nicht, stand auf und ließ die Augen weiter ins Leere starren. Im Linken drohte die schmale Sichel der Pupille unter dem unteren Lid davon zu tauchen; wie einen Teppich zog die Sonne den Schatten unseres Hauses behutsam ins Fundament zurück; und auf einmal lag Vaters Hinterkopf in der prallen Morgensonne. Das Licht glitt erst über seine vom Tod geglättete Stirn, dann über die maskenhaften Gesichtszüge. Zur Besinnung brachte mich ein wohlbekanntes

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