Fahlmann. Christopher Ecker

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Fahlmann - Christopher Ecker

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noch am alten Platz stand, und zelebrierte eine Senior Service, eine dieser legendären Zigaretten, die James Bond zu rauchen pflegt. Ich aschte in den Bettkasten, ließ Arabesken und Ornamente aus Rauch zur Decke aufsteigen, aus deren Flecken und Rissen die vergessenen Fratzen der Jugend traten. Auch aus den Falten der Vorhänge krochen Erinnerungen, bewegten sich seitwärts wie Krebse auf mich zu, ich nahm einen knisternden Zug an der Zigarette, vermisste das Star-Wars-Plakat an der Tür, die Bravo-Poster von Debbie Harry an den Wänden, vermisste sogar die Vollmondnächte, in denen ich nicht schlafen konnte und die Lamellen der Fensterläden das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos über die Zimmerdecke fächerten. Ich war nicht gerne erwachsen. Ich war nie gerne ein Kind gewesen. Mutter mochte Susanne nicht. Susanne mochte Mutter nicht. Ich mochte Mutters Freunde nicht. Tja … Gegenüber machte Onkel Jörg sich bemerkbar, immer noch im lila Bademantel. Ich winkte, und zufrieden darüber, dass ich ihn gesehen hatte, schloss er das Schlafzimmerfenster und zog den Vorhang zu. Ich nahm die Thermoskanne von der Fensterbank und schenkte die Tasse wieder voll. Damals hatte Onkel Jörg meinen Vater eingesargt, alleine, am Nachmittag, aber das Licht brannte noch immer hinter den getönten Scheiben des Lagers, als ich schlafen ging. Am nächsten Tag fuhr er ihn gemeinsam mit Heinz zum Krematorium, nahm dort persönlich die Urne in Empfang und zeigte sie uns allen, bevor er sie nach Sylt zu unserem Reeder schickte. Den Wunsch, auf See bestattet zu werden, hatte Vater mehr als einmal geäußert. Bestimmt ertrug er die Vorstellung nicht, dass sein zu Lebzeiten so sorgsam gepflegter Körper im Erdboden zu Sülze verrottete, Käferlarven ernährte, Maden ein Heim bot, während der Totenwurm Tunnel um Tunnel ins verwesende Fleisch bohrte.

      Der Polizist, den sie uns damals geschickt hatten, war klein und in Zivil, hatte starken Sonnenbrand auf der Stirnglatze und versuchte offenbar, einen Weltrekord im Preisschwitzen aufzustellen. «Sie brauchen keinen Leichenwagen zu rufen», sagte er und sah von seinem Block auf. «Sie können das ja selbst machen.» Dieser Gedanke ließ ihm von nun an keine Ruhe mehr. «Ich weiß, dass das makaber klingen mag, aber irgendwie ist es doch», er zögerte, «praktisch», jetzt war es heraus, «wenn er hier im Hof», um Verständnis heischendes Armrudern, «Sie verstehen schon!» Interessiert wandte er sich an Onkel Jörg, der neben dem Toten auf einem umgedrehten Bierkasten saß. «Wollen Sie es selbst erledigen, Herr Fahlmann?» Onkel Jörg brachte ihn mit einer matten, abwehrenden Handbewegung zum Schweigen. Teilnahmslos beobachtete ich, wie das Sonnenlicht die Westfassade unseres Hauses hinabströmte. Nachdem der Polizist gegangen war, begann Onkel Jörg zu weinen. Heinz legte mir den Arm um die Schulter. Der alte Doktor Birch kam, um den Totenschein auszustellen. Danach ließ er einen Flachmann mit gutem Cognac rumgehen. Er bemerkte mehrmals, es sei eine Schande, ich stimmte jedes Mal zu, gab ihm den Flachmann zurück, er nahm selbst einen tiefen Schluck, Heinz räusperte sich entschlossen. «Wir packen ihn besser weg, bevor Marianne nach Hause kommt!» Und dann packten wir Vater weg.

      Im Flur klingelte das Telefon, hartnäckig, mit prahlerischem Dudeln. Früher haben Telefone wenigstens noch richtig geläutet, aber das hört man leider nur noch in alten Filmen. Hier gibt es kein Telefon. Wozu auch? Ich sitze an einem – nein, ich muss weitermachen, muss mich weiter erinnern, das Telefon läutet, ich muss mich erinnern, wie ich die Kaffeetasse auf die Fensterbank stellte, in den Flur ging, muss mich genau erinnern, wie ich den Hörer abhob …

      «Spreche ich mit Herrn Georg Fahlmann?»

      Ich kannte die Stimme. «Ja», sagte ich.

      «Es geht um Ihren Großvater.»

      «Wer spricht dort, bitte?»

      «Buchhandlung Struebing. Struebing mein Name.»

      Vorsichtig, um mich nicht im Telefonkabel zu verheddern, ging ich zurück in die Küche, schob das Frühstücksgeschirr beiseite und parkte das Telefon zwischen Tellern und Marmeladengläsern. Jens hatte seinen Kakao nicht ausgetrunken, aber wir waren froh, wenn er überhaupt frühstückte. «Ein halbes Brötchen», drängten wir und werteten es als Erfolg, wenn er zwei Drittel davon aß. Ein Pausenbrot brauchte man ihm gar nicht erst zu schmieren, da der Hausmeister der Grundschule, ein gewisser Herr Sattler, einen florierenden Handel mit aufgeschnittenen Brötchen unterhielt, zwischen deren Hälften er Mohrenköpfe plattdrückte; für Jens gab es nichts Köstlicheres.

      «Was kann ich für Sie tun, Herr Struebing?»

      «Er ist wieder da.»

      «Und?»

      «Er lässt sich nichts sagen.»

      Ich ließ ihn zappeln.

      «Wäre es möglich, dass Sie mit ihm …?»

      «Sie möchten, dass ich mit ihm spreche?»

      «Genau», sagte Herr Struebing dankbar, und kurz darauf meldete sich mein Großvater mit einem skeptischen: «Roeder?»

      «Na, wie gehts?»

      «Georg! Hat er dich wieder angerufen?»

      «Wer sonst? Wie gehts dir?»

      «Bestens. Über die Stufen des Walds tanzt das silberne Herz.»

      Zu sagen, dass Großvater die Literatur liebte, ist untertrieben. Im Unterschied zu üblichen Bibliophilen handelte es sich bei ihm jedoch, wie er gerne betonte, um einen philanthropischen Bibliophilen, einen, dessen Lebenssinn darin bestehe, jeden an seiner Liebe zum gedruckten Wort teilhaben zu lassen. Hatte er einen guten Tag, das heißt einen Tag, an dem er erwachte und sich mitteilsam fühlte, was ziemlich häufig vorkam, zog er den Sonntagsanzug an, fuhr mit dem Bus in die Innenstadt und beriet die Kunden in seinen zwei oder drei Lieblingsbuchhandlungen. Da diese aber erst nach neun Uhr öffneten, begann er die Runde notgedrungen in der Buchhandlung Struebing, wo man nicht nur Bücher, sondern auch Zeitschriften, Geschenkpapier und Schulbedarf verhökerte, ein Umstand, den Großvater von ganzem Herzen verabscheute. Durch einen Zufall (Jens schrieb ein Diktat, konnte den Füller nirgends finden und brauchte einen neuen) hatte sich mir eines Tages die Gelegenheit geboten, Großvater bei der Arbeit zu beobachten. «Kann ich Ihnen behilflich sein?», fragte er, den Oberkörper leicht vorgebeugt, die Hände in Bauchhöhe verschränkt, eine zuvorkommende Haltung, die ihm im Zusammenspiel mit der scharf gebogenen Nase und dem wiedehopfartigen Haupthaar etwas Vogelähnliches gab. «Sie arbeiten nicht hier, Herr Roeder!», versuchte der Buchhändler einzuschreiten, und ich nahm mit Entzücken zur Kenntnis, dass man das Ärgernis beim Namen kannte. «Wenn das so weitergeht, werde ich mich in Bälde gezwungen sehen, die Polizei zu alarmieren!» Großvater lächelte entwaffnend freundlich. «Ach, für mich ist das doch keine Arbeit! Das mach ich gerne!» – «Es geht nicht darum, ob Sie es gern machen, Herr Roeder!» – «Ich denke, dass es ganz allein darum geht!» Mit einer höflichen Verbeugung beendete Großvater das Gespräch. Ich verstand nicht, wieso Struebing sich aufregte. Meiner Meinung nach sollten Leute wie er heilfroh sein, wenigstens einmal am Tag eine kompetente Kraft im Laden zu haben.

      «Was empfiehlst du heute?», fragte ich Großvater.

      «Ich habe zurzeit ein Faible für die Amerikaner.» Wir plauderten ein wenig, Großvater nahm mir das Versprechen ab, ihn bald besuchen zu kommen, er habe da ein Buch, das ich unbedingt – er lachte. «Struebing macht die ganze Zeit spitze Ohren. Ohren wie ein kleiner Elferich – ich muss Schluss machen, da kommt Kundschaft.» Hastig wünschte er mir viel Glück bei der Arbeit, Grüße an die Familie sowieso, ach ja, natürlich sei er gespannt auf meinen Roman, sehr gespannt sogar. Er legte auf und ließ mich allein in der Küche zurück. Mittlerweile war es acht Uhr fünfundfünfzig. Ich stellte mich wieder ans Fenster, trank eine weitere Tasse Kaffee, rauchte und genoss es, noch immer nicht arbeiten zu müssen. Unten kurvte Heinz auf der Vespa in den Hof, gab Gas wie ein Stuntman, schlitterte über den Schotter, feixte zu mir hoch, nahm den Helm ab und brüllte: «Alles klar?» Ich antwortete mit einem aufgerichteten Daumen. Heinz lehnte die Vespa

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