Dattans Erbe. Nancy Aris

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Dattans Erbe - Nancy Aris

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Wenn ich ankäme, hätte der nächste Tag schon begonnen. Acht Zeitzonen hätte ich dann durchquert.

      Wladiwostok – Beherrsche den Osten! Was für ein Name … Vor über zwanzig Jahren hatte ich mich schon einmal auf den Weg dorthin gemacht. Es war eine der abenteuerlichsten Reisen, die ich je unternommen hatte. Eigentlich wollte ich gar nicht nach Wladiwostok, sondern nach China. Angefangen hatte alles mit Qiang, einem Nachbarn im Studentenwohnheim. Ich hatte in Moskau studiert. Nach der Wende, als es fast alle in den Westen zog, nahm ich die andere Richtung. Ich wollte Russisch lernen. Eigentlich eine Schnapsidee, denn es war eine total chaotische und harte Zeit damals. In den Geschäften gab es nichts zu kaufen, und wir Studenten bekamen wie zum Trost Lebensmittelmarken ausgehändigt. Cafés suchte man vergeblich und in der Mensa gab es tagein tagaus trockene Buchweizengrütze ohne etwas dazu. Überall leere Auslagen, in denen die Kakerlaken verloren umhereilten. Wohl dem, der ein Stück Land besaß und sich selbst versorgen konnte. Auf privaten Märkten fand man alles. Die Preise waren horrend, aber dank D-Mark blieb für uns die Versorgung billig. Ich weigerte mich, dort einzukaufen, weil ich nicht besser gestellt sein wollte als die Einheimischen, aber ich hasste den strengen Geschmack des Buchweizens. Von Anfang an hatte ich mir angewöhnt, immer einen Rucksack dabei zu haben. Sah ich eine Schlange, schaute ich, was es gab und stellte mich an. Das starre System der sozialistischen Planwirtschaft war kollabiert. Ein noch nie gesehener Manchesterkapitalismus machte sich breit. Marx hätte gestaunt. Betriebe und Wohnungen wurden privatisiert, aus linientreuen Apparatschiks wurden Oligarchen, die das Volkseigentum aufgeteilt hatten, bevor die Masse überhaupt verstand, was vor sich ging. Die Preise explodierten, aber die Mehrheit arbeitete für den alten Sowjetlohn, der hinten und vorne nicht reichte. Viele erhielten monatelang keine Kopeke. Im Straßenbild tauchten erste Obdachlose auf, marodierende Kinderbanden, beinlose Afghanistanveteranen, die auf kleinen Wagen in den Metroeingängen saßen und bettelten, weil der Staat seine Fürsorgepflicht vergessen hatte. Das öffentliche Leben löste sich auf: Busse kamen nur noch sporadisch, Vorortzüge wurden nicht mehr beheizt, aus Schlaglöchern wurden Fallgruben. Die Gesellschaft schien aus den Fugen, kein Stein blieb auf dem anderen, doch in der Uni herrschte unbeirrt das alte Sowjetregime, es ging zu wie unter Breschnew. Wir Ausländer wurden separiert, der Kontakt zu einheimischen russischen Studenten war zwar nicht ausdrücklich verboten, aber die Uni-Leitung achtete peinlich genau darauf, jedwede Berührungspunkte zu vermeiden. Wir sollten unter uns bleiben, immerhin waren wir jetzt die aus dem Westen. Die Angst vor dem Klassenfeind saß tief. Das Studium in meiner „Berliner Seminargruppe“ war eine Farce. Da saß ich in Moskau mit den gleichen Leuten zusammen, mit denen ich auch an der Humboldt-Uni studierte, nur dass eine verknöcherte Altstalinistin ihren Frontalunterricht abspulte. Als ich einmal vorschlug, mehr dialogisch zu lernen, stellte sie mich als Lehrerin vor die Gruppe. Ich mied die Lehrveranstaltungen mehr und mehr, ließ mich stattdessen durch die Stadt treiben, schaute mir Ausstellungen an, ging auf Konzerte und lernte dabei unaufhörlich neue Leute kennen. Irgendwann verliebte ich mich in einen Amerikaner, der eigentlich Brite war. Und ich verreiste viel, denn ich wusste, dass ich unterwegs mehr lernte als beim todlangweiligen Übersetzen mit Nina Andrejewna. China jedoch stand damals nicht auf meinem Wunschzettel. Wäre Qiang nicht gewesen …

      Qiang kam aus China. Er wohnte auf der gleichen Etage und manchmal trafen wir uns in der Gemeinschaftsküche. Immer schwärmte er von seiner Heimat. Er riet mir, unbedingt dorthin zu fahren. Moskau sei die Hälfte des Weges, von Berlin aus sei es weiter und viel teurer. Qiang wohnte mit drei Landsleuten in zwei Zimmern. Zwei von ihnen waren sehr alt, ganz offensichtlich keine Studenten mehr. Wie sie das arrangiert hatten, war mir schleierhaft, denn unser Wohnheim war ausschließlich westeuropäischen und amerikanischen Studenten vorbehalten. Es herrschte strengstes Reglement. Das zentral gelegene Nobelheim für die Besserverdiener war keine Herberge für chinesische Studenten, schon gar nicht für deren Verwandte. Die zwei ausgemergelten Alten, die mit Qiang und Wei zusammenlebten, wären der rund um die Uhr besetzten Eingangswache unweigerlich in die Hände gefallen. Sie mussten also irgendeinen Deal ausgehandelt haben. Die schon gebeugt gehenden Herren, Jian und Kang, stellten sich mir als schamanische Wunderheiler vor, deren Namen so viel wie Gesund und Glücklich bedeuteten. Anfangs hielt ich das für einen Witz. Wahrscheinlich wollten sie mich damit aufziehen, weil für uns alle Chinesen gleich aussahen, fast jeder Ling hieß und Akupunkturexperte war … Und in der Tat, rein äußerlich hätte ich sie ohne Zögern in die Schublade „buddhistische Ginsengwurzelsucher“ gesteckt. Ich schenkte dem also keine Beachtung und lachte innerlich, wenn Glücklich und Gesund meinen Weg kreuzten. Als mir Qiang später erzählte, dass sie tatsächlich so hießen, war ich fast ein wenig enttäuscht.

      Irgendwann tauchte mein Exfreund Sebastian in Moskau auf. Eigentlich wollte er nur kurz vorbeischauen, einer seiner gefürchteten Überraschungsbesuche. Aber dann wurde sein Pass geklaut und er musste länger bleiben. Im penibel überwachten Wohnheim waren diese Tage, vor allem aber die Nächte absoluter Stress. Jeden Abend musste ich Sebastian vor den Kontrollen der Eingangswache verstecken, weil sie zuvor jeden Besucher notiert hatten. Wer bis 23 Uhr die Pforte nicht wieder passiert hatte, wurde im Wohnheim gesucht. Nach drei Nächten verzweifelten Versteckspiels und waghalsiger Ausreden suchte sich Sebastian ein Zimmer bei einer Oma um die Ecke. An jedem Bahnhof standen die Alten und hielten nach Untermietern Ausschau, um im wütenden Raubtierkapitalismus überleben zu können. Plötzlich war er Teil dieser altmodischen und zugleich chaotischen Welt, die komplett anders tickte als sein Berliner Leben. Sebastian fand das so aufregend, dass er trotz ausgehändigtem Ersatzpass beschloss, in Moskau zu bleiben. Aber wie sollte das gehen? Er hatte kein Visum und gerade erst seinen Zivildienst angefangen. Zur Armee wollte er nicht, aber auch der Zivildienst nervte ihn. Eine unzumutbare Zwangsmaßnahme. Als Künstler wollte er sich in kein System pressen lassen. Auch wenn er die Geschichten der Alten mochte, hatte er keine Lust, ihre Windeln zu wechseln. Altenpflege war was für Weicheier. Allein der hilfsbereit weinerliche Ton in seiner Sozialstation reizte ihn.

      Und genau hier gerieten Glücklich und Gesund wieder ins Blickfeld. Sebastian hatte die Idee, dass ihm die Schamanen, die vorgaben, zertifizierte Alternativmediziner zu sein, eine Bescheinigung ausstellen könnten. Ein Attest über ein plötzlich eingetretenes Rückenleiden. Es klang absurd, aber warum nicht? Ein Versuch war es wert. Ich bahnte über Qiang den Kontakt an und Sebastian ging zur Sprechstunde ins Wohnheimzimmer 412. Die Chinesen nahmen sich seiner an. Sie schrieben Sebastian ein Attest und bescheinigten ihm, dass er eine akute Nerveneinklemmung habe, nicht transportfähig sei und nur durch eine schonende, aber sehr langwierige Therapie genesen könne. Sebastian blieb schließlich zwei Monate in Moskau, genoss sein Leben bei der betagten Jewfrosinija Petrowna und erfreute sich bester Gesundheit.

      Qiang lag mir weiter in den Ohren. Irgendwie fühlte ich mich verpflichtet. Immerhin hatte er Sebastian aus der Klemme geholfen. Und so beschloss ich, meinen alten Reisekumpanen Jan zu fragen, ob wir nicht gemeinsam in Qiangs Heimat fahren sollten. In ein paar Tagen würde er ohnehin nach Moskau kommen. Aber Jan war von meinen Abwegen nicht begeistert. Er wollte nach Moskau kommen, um Freunde zu besuchen. Mal keine Fernreisen, mal kein Abenteuer. Auch mir passte das nicht, weil ich eine Amerikareise geplant hatte und in Gedanken schon im Flugzeug nach New York saß. Andererseits … Jan und ich waren das perfekte Reise-Duo. Wir hatten unzählige Orte in der Sowjetunion bereist, in Zentralasien, in Sibirien, im Kaukasus, am Schwarzen Meer, im Baltikum. Wir waren überall, manchmal in brisanten Zeiten, fast nie mit gültigen Papieren, dafür immer abenteuerlich und irgendwie erfolgreich an den Behörden vorbei. Wir fanden immer die richtigen Tricks, mit denen wir uns durchmogeln, die Polizisten oder andere Kontrolleure hinters Licht führen konnten. Irgendwie hatten wir immer Glück. Nur einmal musste das deutsche Außenministerium eingeschaltet werden. Da waren wir sechs Wochen ohne Visum durchs Land gereist, vom Baltikum bis an die iranische Grenze, alles mit einer Einladung aus Litauen. Damit wollte uns verständlicherweise keiner ausreisen lassen, weder an der Grenze zur Türkei noch an der Grenze nach Polen. Letztlich klappte auch das. Wie immer. Warum also nicht ein Abstecher nach China? Jan blieb stur, nein, diesmal bitte kein Chaos. Aber kaum war er in Moskau gelandet und kaum hatte er Glücklich und Gesund kennengelernt, hatte ihn die Abenteuerlust gepackt. Doch in Berlin durfte keiner davon erfahren.

      Wir

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