Dattans Erbe. Nancy Aris
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Post aus München
Drei Wochen nach meiner übereilten Postkartenaktion bekam ich einen Brief. Es war ein edler Umschlag, mit Sorgfalt ausgewählt, nichts aus dem gängigen Schreibwarensortiment. Ich hatte diese Episode fast schon wieder vergessen. Nun war ich gespannt. Hatte meine eilig hingehuschte Nachricht tatsächlich Erfolg gehabt? Ich öffnete den Brief und las:
München, der 30. Mai 2013
Sehr geehrte Frau Stehr,
vielen Dank für Ihr zugegebenermaßen eigenwilliges Schreiben. Uns haben zahlreiche Zuschriften erreicht, viele von hochkarätigen Wissenschaftlern mit besten Referenzen. Ich habe mich ungeachtet dessen dafür entschieden, den Kontakt zu Ihnen zu suchen, auch wenn ich kaum etwas von Ihnen und Ihren fachlichen Qualifikationen weiß. Ich tue dies, weil Sie in kühner Weise reagiert haben und ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, worum es mir gehen könnte, eine Brücke zu meinem Anliegen geschlagen haben: die Karte vom Handelshafen. Zudem hat mir ein befreundeter Journalist erzählt, dass es Anfang der 1990er Jahre für Ausländer strengstens verboten war, nach Wladiwostok zu reisen. Es war eine geschlossene Stadt und es war gänzlich unmöglich. Wenn Sie dennoch dort waren, sind Sie vielleicht genau diejenige, die ich suche.
Ich würde Sie gern persönlich kennenlernen, Frau Stehr, um einschätzen zu können, ob Sie die Richtige für dieses ambitionierte Vorhaben sind. Bei der Recherche geht es um eine Familiengeschichte, konkret um meinen Großvater Adolph Dattan. Er war einer der Pioniere, der vor etwa hundertfünfzig Jahren ein ganzes Handelsimperium in Russisch Fernost mit aufgebaut hat. Das erste deutsche Kaufhaus gab es nicht in Deutschland, sondern in Wladiwostok.
Ich selbst habe die achtzig bereits überschritten und es ist mir ein Herzenswunsch, unsere Familienchronik abzuschließen. Ich habe unzählige Firmenunterlagen ausgewertet, aber mir fehlt der russische Teil der Überlieferung. Leider bin ich des Russischen nicht mächtig. Zudem habe ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft.
Wissen Sie, ich bin sehr stolz auf meinen Großvater. Er hat Großes vollbracht, hat viel erdulden müssen, aber heute kennt ihn kaum einer. Ich will versuchen, ihn mit dieser Chronik dem Vergessen zu entreißen. Und ich will die Wahrheit ans Licht bringen. Dazu brauche ich fundierte Hilfe. Aber nicht nur das. Ich brauche jemanden, der das nicht nur als Auftrag sieht, weil er sonst gerade nichts zu tun hat, sondern jemanden, der hundertprozentig dahintersteht, jemanden, der kämpft, selbst wenn es brenzlig wird.
Ich würde mich freuen von Ihnen zu hören.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Siegfried Bornecker
Ich musste mich hinsetzen. Was war das denn? Dieser Brief war kryptisch und aufschlussreich zugleich. Er war formell und trotzdem persönlich. Und er legte sofort den Rahmen fest. Siegfried Bornecker suchte keinen Rechercheur, sondern einen Verbündeten und er glaubte, ihn in mir gefunden zu haben. Ich schrieb gern Briefe und ich sah, dass sich hier jemand gründlich Gedanken gemacht hatte. Siegfried Bornecker sprach in Andeutungen, er legte Fährten und offenbar war er sich sicher, dass ich sie zu lesen verstand. Seit fast zehn Jahren tat ich nichts anderes, als Menschen dem Vergessen zu entreißen oder ihrer Geschichte überhaupt ein Gesicht zu geben. Wusste er davon? Etwas nahm mich sofort gefangen und als ich den Brief das dritte Mal gelesen hatte, war für mich klar, dass ich für Siegfried Bornecker nach Wladiwostok fliegen würde. Wenn es dort etwas gab, würde ich es für ihn finden.
Ich hätte nie erklären können, warum gerade Russland diese Faszination auf mich ausübte. Vielleicht war es einfach nur, weil ich meine Zeit des Studiums, verrückte Reisen, wilde Männergeschichten, kurz meine Jugend, damit verband. Aber das hätte wohl nicht gereicht, mich aus meinem bisherigen Leben zu reißen. Nach zehn geordneten Jahren in der deutschen Verwaltung war es vielleicht einfach die Lust auf ein Abenteuer, die Sehnsucht nach Irrationalem, nach einer geheimnisvollen Welt, in der sich nicht alles sofort erschloss. Wie hatte Tjutchew doch gleich gesagt? „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“ Was er im 19. Jahrhundert postuliert hatte, schien unverändert. Und so oft ich mich über Russland geärgert und mir fast die Zähne daran ausgebissen hatte, so sehr liebte ich das Land. Es war eine Hassliebe. War ich dort, wollte ich weg, war ich weg, wollte ich hin. Nun erhielt ich vielleicht die Gelegenheit, dort zu sein und das Land wieder nicht zu verstehen.
Ankunft in Wladiwostok
Die Lautsprecherstimme der Stewardess meldete den bevorstehenden Landeanflug. Leider war kaum etwas von der Stadt am Pazifik zu sehen, ein dichter Nebel hing über der Bucht. Ich spürte, wie die Aufregung in mir hoch kroch. Dabei gab es gar keinen Grund. Alles war geregelt. Mein Visum galt drei Monate. Für die ersten drei Nächte hatte ich ein Hotel. Siegfried Bornecker hatte komplett durchbuchen wollen, aber ich war dagegen. Ich wollte mir vor Ort selbst ein Bild machen. Schließlich konnte ich mir dann immer noch etwas Besseres suchen. Vielleicht würde ich gar nicht die ganze Zeit in Wladiwostok bleiben.
Ich folgte dem Menschenstrom.
Passkontrolle, Gepäckband, Ausgang.
Alles war unkompliziert. Der Flughafen wirkte hochmodern. Das hatte ich so nicht erwartet. Ich hatte zwar gelesen, dass man für den APEC-Gipfel, der hier im letzten Jahr zusammengekommen war, alles auf neuesten Stand gebracht hatte, aber diese futuristisch anmutende Welt irritierte mich. Die lichtdurchflutete Eingangshalle und die riesige Glasfront blendeten mich. Die Weite der Halle und die spiegelnden Oberflächen hatten etwas Künstliches und Beängstigendes. Man fühlte sich wie eine winzige Ameise, endlose Strecken überwindend, für alle weithin sichtbar. Ich kam mir vor wie in einer Computeranimation. Überall moderne Technik, edles Design und erlesene Materialien. Das musste Millionen gekostet haben. Schön war es trotzdem nicht. Unweigerlich musste ich an das Debakel um den Berliner Großflughafen denken und plötzlich überfiel mich ein Gefühl der Scham. Warum waren wir immer so arrogant und hielten uns für etwas Besseres? Es war so provinziell und peinlich, was die Berliner seit Jahrzehnten abzogen. Sie bekamen es einfach nicht hin, einen Flughafen zu bauen. Tempelhof hatte man bereits bei Baubeginn geschlossen. Tegel und Schönefeld sollten in Kürze folgen. Der BER war Politposse und Milliardengrab. 75 000 Baumängel hatte man gefunden. Trotzdem war ich mir sicher, dass sich die Berliner – zum Flughafen in Wladiwostok befragt – abfällig äußern würden. Sie würden eine Holperpiste als Landebahn erwarten und eine muffig-dunkle Halle für den Check-in. Und die Flugzeuge? Hatten die Russen nicht immer Hühner und Ziegen auf dem Schoß? Reichten die Sitzplätze überhaupt? Mussten in Russland nicht immer Passagiere im Gang stehen?
Ich war noch nicht einmal richtig angekommen und schon überfiel mich ein komisches Gefühl. Ich ahnte, dass wir nichts von dem Leben hier wussten. Wir, die aufgeklärten Westeuropäer.
Sogar die aufdringlichen Taxifahrer, erstes Begrüßungszeichen am Eingangsbereich eines jeden russischen Flughafens, waren mittlerweile fast verschwunden. Früher war es ein Krampf, sich zu einem öffentlichen Verkehrsmittel durchzuschlagen. Man wurde förmlich von Taxifahrern umzingelt, die einem im Chor ein „Taksi“, ein „Kuda?“ oder