APEX. Ramez Naam
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Wie konnte ich nur vom Verfassen politischer Schriftsätze auf einmal hierher gelangen?, fragte sich Pryce.
Hatte es geholfen, dass Stephen tot war? Sie spürte einen plötzlichen Gewissensbiss, als sie daran dachte. Es war jedoch nicht das erste Mal, dass sie dieses schlechte Gewissen im Nacken hatte.
Hätte ich es jemals so weit gebracht, wäre mein Ehemann noch am Leben gewesen? Oder wenn wir ein Kind gehabt hätten, wie wir es geplant hatten?
»Carolyn!« Stockton verlor die Geduld.
Pryce schaute auf. Ein Agent des Secret Service hielt die Tür des Beasts auf, der spezialgefertigten Limousine, in der der Präsident fuhr. Es war ein unvergleichliches Fahrzeug.
»Ja, Mr. Präsident«, sagte sie und stieg in das Beast. Sie nahm auf einem Sitz gegenüber des Präsidenten und seiner Frau Platz.
John Stockton schaute aus dem Fenster. Und Pryce hatte nun umso mehr ein schlechtes Gewissen wegen der Gedanken, die sie eben gehabt hatte.
Während Stephens Krebserkrankung und auch danach … die Stocktons waren immer gut zu ihr gewesen. John und Cindy hatten sie immer unterstützt, damals als er noch Senator war und dann Vizepräsident.
Und was war so verwerflich daran gewesen, dass sie sich in die Arbeit gestürzt hatte? Dass der Job alles war, was sie in den letzten zehn Jahren gehabt hatte.
Arbeit war rational. Arbeit war analytisch. Der Job war immer etwas, worin sie alle beeindruckte – schon seit dem Studium, und dann auch während ihrer Promotion und bei ihrem ersten Buch. Sie konnte Problematiken in kleinere Sachverhalte herunterbrechen und sehen wie die Puzzleteile ineinander passten. Sie konnte die Sachverhalte so erklären, dass sie für andere verständlich wurden und bislang unübersichtliche Dinge überschaubar machen. Und sie konnte Lösungen finden, die anderen nie in den Sinn gekommen wären.
Sie seufzte. Sich vollkommen dem Job hinzugeben war einfacher gewesen, als mit dem Tod ihres Ehemanns klarzukommen. Und damit, niemals das Kind zu haben, das sie sich immer gewünscht hatte.
Die Lichter der Streifenwagen gingen an. Pryce drehte sich, um aus dem Fenster des Beasts zu schauen. Drohnen hoben ab und flogen zwischen den Bodenfahrzeugen umher, bereit, ihre Überwachung zu starten und jegliche feindlichen Bewegungen aufzuzeichnen.
Dann fuhren sie los. Sie fuhren die Rampe hoch und in Houstons Morgendämmerung hinein.
Dann sah sie die Demonstration.
In den Lichtern der Straßenlaternen drängten sich tausende von Demonstranten. Eine Polizeiabsperrung hielt sie zurück und machte die Straße für den Konvoi frei. Das dicke Glas des Beasts und sein hermetisch abgesicherter Fahrzeuginnenraum dämmten ihre Protestrufe.
Nichtsdestotrotz war ihr Zorn spürbar. Er war in ihren vor Wut verzerrten Gesichtern zu sehen. Und in den gewaltsamen Bewegungen, mit denen sie ihre Schilder schwangen. Schilder, auf denen stand: »TERRORIST!«, »LANDESVERRÄTER!«, »BABYMÖRDER!«
Sie ging in Deckung, als etwas in ihre Richtung geschleudert wurde. Dieses Etwas zerplatzte im Flug zu einer gelben Flüssigkeit und jemand ganz vorne in der Menschenmenge verzerrte sein Gesicht vor Schmerzen.
Sie erkannte, dass es ein Ei gewesen war. Einer der Demonstranten hatte ein Ei auf das Beast geworfen. Und eine der Drohneneskorten hatte das unbekannte Objekt in der Luft abgewehrt und dem armen Idioten, der es geworfen hatte, einen Elektroschock verpasst.
Sie sah in die Limousine zurück und sah Cindy Stockton aus dem Fenster starren. Ihr Blick war voll Sorge und sie hielt die Hand ihres Ehemanns. Pryce drehte sich zu Stockton und suchte nach Zeichen von Wut, Resignation oder vielleicht Reue in seinem Gesicht.
Doch stattdessen fand sie etwas anderes.
Entschlossenheit.
Er hatte sie gebeten, mit ihnen mitzufahren. Warum? Sollte sie ihm Barnes Selbstmordgeständnis erklären?
Wollte Stockton etwas aus ihr herauskriegen, das sie ihm bis jetzt verschwiegen hatte? Hatte er vor, ihr zu erklären, warum das alles notwendig gewesen war? Den Grund für all das?
Sie verstand Realpolitik. Prinzipien waren wichtig, aber in Extremsituationen brachen sie zusammen. An einem gewissen Punkt und unter gewissen Umständen wurde jeder zum Pragmatiker.
Aber das hier … die Dinge, die Barnes gesagt hatte. Das war zu viel gewesen. Viel zu viel.
Würde Stockton ihr Informationen über Zusammenhänge liefern, die die ganze Sache ändern würden? Die das Ganze in einem anderen Licht darstellen würden, sodass es Sinn für sie ergeben würde?
Oh Gott, sie hoffte, es würde so kommen. Denn so wie die Sache gerade aussah …
Der Präsident schaute zu ihr auf und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Jetzt kommt’s, dachte sie.
»Barnes wurde ermordet«, sagte John Stockton. »Da bin ich mir sicher.«
Pryce konnte ihren Ohren nicht trauen. Ihr blieb die Luft weg.
»Ich möchte, dass sie sich auf den Mord an Barnes fokussieren«, sagte Stockton. »Gehen Sie davon aus, dass es ein Angriff aus einem feindlichen Lager war. Behandeln Sie es als einen Fall für die Nationale Sicherheit und geben Sie der Sache höchste Priorität.
Carolyn Pryce öffnete ihren Mund, um zu sprechen.
Kaoris schlecht durchdachte Nachricht kam ihr in den Sinn.
Becker? Dann Holtzman? Dann Barnes? Man könnte meinen, das alles ginge nicht mit rechten Dingen zu.
Sie schloss ihren Mund wieder.
John Stockton starrte nun wieder aus dem Fenster. Mit einem Blick tiefster Entschlossenheit.
Und zum ersten Mal fragte sich Pryce, wie weit die Entschlossenheit des Präsidenten gehen würde.
Wie weit wirklich?
Breece lief die dreizehn Kilometer zurück zum Parkplatz, wo er sein Auto stehen gelassen hatte. Dann fuhr er auf die Autobahn und befahl seinem Wagen, Richtung Westen zu fahren.
Der Gedanke daran, wie Barnes gestorben war, kreiste ihm immer wieder durch den Kopf. Der Gedanke daran, dass der Hacker einfach komplett Besitz von ihm übernommen hatte.
Es brachte Erinnerungen an Hiroshi zurück. Wie jemand durch Nexus Hiroshis Gehirn gehackt hatte. Wie Breece dazu gezwungen worden war, eine Kugel in den Schädel seines besten Freundes zu jagen …
Nein. Er schüttelte den Gedanken ab.
Als Hiroshi gehackt worden war, war nicht mehr viel von seiner tödlichen Anmut übrig geblieben. Plötzlich war er linkisch und unkoordiniert gewesen. Der Hacker, der hinter alldem stand, hatte es nicht geschafft, sich durch Hiroshis Erinnerungen zu wühlen und gleichzeitig seinen Körper zu kontrollieren. Von Präzision ganz zu schweigen.
Aber der andere Hacker, der sich Zarathustra geschnappt hatte, war es