Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa Simon
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Ohne auf die Antwort zu warten, trat sie ein. »Diana hat mir erzählt, was heute nacht passiert ist. Glauben Sie mir, Frau Clasen, es tut mir schrecklich leid, was geschehen ist. Mich trifft die Schuld ja genauso wie Diana.«
»Jetzt setzen Sie sich erstmal und machen sich keine Vorwürfe. Ich habe schon zu Diana gesagt, daß Sie sich beide keine Vorwürfe zu machen brauchen. Schließlich können Sie nicht die ganze Nacht im Haus herumwandern, um zu sehen, ob ein Kind sich davonschleichen will.«
»Wo kann Kevin denn nur stecken?« fragte sie mit einem Blick auf Ellen Langner.
Diese zuckte die Achseln. »Noch wissen wir leider überhaupt nichts, aber das kann sich sehr schnell ändern.« Dann erzählte sie von den Suchanzeigen, die am nächsten Tag in den Zeitungen erscheinen sollten.
Erst abends, als die Kinder im Bett waren, trat etwas Ruhe ein. Von den Erzieherinnen war keine nach dem offiziellen Feierabend nach Hause gegangen. Diana mußte überredet werden, sich wenigstens in einem Ruheraum für eine Weile hinzulegen, weil alle befürchteten, daß sie ansonsten einen Nervenzusammenbruch erlitt.
Die anderen, Bärbel Clasen inbegriffen, saßen stumm im Aufenthaltsraum; nur das ständige Blubbern der Kaffeemaschine war zu hören. Keiner wußte, wie viele Tassen Kaffee er an diesem Tag schon getrunken hatte, aber das war auch egal.
Die beiden Polizeibeamtinnen hatten am späten Nachmittag ohne Ergebnis das Waisenhaus verlassen und wollten sich am nächsten Morgen wieder melden.
Julia öffnete ihren Spind, um sich ihre Strickjacke herauszuholen, da fiel ihr Blick auf das Geschenkpäckchen.
»Kevin hat heute Geburtstag«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Im Hintergrund hörte sie Marianne schluchzen, und Frau Clasen seufzte tief auf. »Hören Sie, ich glaube, es hat nicht viel Zweck, weiterhin hier herumzusitzen und zu grübeln. Bitte gehen Sie, außer der Nachtwache, nach Hause zu ihren Familien. Ich selbst werde mich in meinem Büro etwas hinlegen, der Tag war lang und anstrengend.«
»Unmöglich!« protestierte Diana, die gerade in das Zimmer gekommen war. »Ich werde hierbleiben!«
»Dann bleibe ich auch hier«, sagte Julia sofort. »Wir übernehmen den Dienst von Sylvia und Michaela.«
»Meinetwegen, aber die anderen gehen jetzt bitte nach Hause«, erwiderte Bärbel Clasen müde. »Wenn sich etwas ergibt, rufe ich Sie alle an, das verspreche ich.«
Nur zögernd verließen die Frauen den Aufenthaltsraum; doch Frau Clasen hatte recht. Kevin würde auch nicht eher wieder auftauchen, wenn sie Nacht für Nacht hier untätig herumsitzen und warten würden.
Zum Schluß saßen nur Diana und Julia da, auf dem Tisch eine Anzahl leerer Kaffeetassen.
»Habt ihr denn bei eurem Rundgang heute nacht nichts bemerkt?« fragte Julia besorgt. »Ist dir irgend etwas aufgefallen?«
Diana schüttelte langsam den Kopf. »Das hat mich die Polizei auch schon gefragt, aber wir haben wirklich nichts gemerkt.«
Es war Vorschrift, daß die Nachtwache einmal in der Stunde in das obere Stockwerk ging und an den Türen horchte, ob alles ruhig war. Hin und wieder wurde leise eine Tür geöffnet und kurz hineingesehen, ob die Kinder tatsächlich schliefen oder heimlich unter der Bettdecke mittels einer Taschenlampe ein Comicheft lasen, was öfter mal vorkam. Aber mehr als Stichproben war bei den vielen Zimmern nicht möglich. Nur durch Zufall wäre Kevins Verschwinden aufgefallen oder hätte sein Fortschleichen bemerkt werden können…
*
Tatsächlich erschienen in einer lokalen und zwei regionalen Tageszeitungen die Suchanzeige und das Foto von Kevin. Den ganzen Tag über erwartete man Hinweise darüber, wo der Junge sein konnte.
Jedesmal, wenn das Telefon im Büro schrillte, zuckten alle zusammen, da in der Zeitung außer der Telefonnummer der Polizei auch die Rufnummer des Heimes stand. Doch die meisten Anrufer wollten wissen, ob der Junge schon gefunden worden war oder hatten mit dem Fall gar nichts zu tun. Zweimal war angeblich ein Kind gesehen worden, das so aussah wie Kevin – doch beide Male mußte die Polizei unverrichteter Dinge wieder abrücken, da es sich um falschen Alarm handelte. Einer der Jungen, der angeblich Kevin sein sollte, spielte vor seinem Elternhaus und der andere entpuppte sich als rothaariges sommersprossiges Kerlchen, das bereits zehn Jahre alt war.
Julia hatte seit Kevins Verschwinden kaum schlafen können; sie war zwar nach ihrem Nachtdienst, der ruhig verlief, kurz nach Hause gefahren, um zu duschen und frische Kleidung anzuziehen, aber sie legte sich nicht hin, wie ihr Bärbel Clasen geraten hatte.
Wo mochte der Junge jetzt wohl sein? Schlimme Gedanken fuhren Julia durch den Kopf. Heutzutage konnte man doch niemandem mehr über den Weg trauen! Kevin war zwar kein leichtgläubiges Bürschchen, aber trotzdem ein kleiner schwacher Junge, der sich sicherlich nicht gegen einen Erwachsenen wehren konnte.
Im MARIENKÄFER versuchte das gesamte Personal, die Kinder etwas abzulenken – mit neuen Spielen und einem lustigen Videofilm am Nachmittag im Fernsehzimmer. Doch die Atmosphäre blieb angespannt; die Kinder tuschelten und mutmaßten, ob Kevin etwas passiert sein könnte.
Gegen Abend sagte auch Ellen Langner zu Frau Clasen, daß sie befürchtete, dem Jungen könne etwas Ernsthaftes zugestoßen sein.
»Es ist merkwürdig, daß niemand Kevin gesehen haben will. Wenn es nicht bald eine Spur von ihm gibt, wird wohl das Fernsehen eingesetzt werden müssen.«
Bärbel Clasen nickte der Polizeimeisterin zu. »Das wird wohl das beste sein, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Kevin die Stadt verlassen haben soll. Er hat weder Geld noch Lebensmittel bei sich.«
»Vielleicht sollte man doch die Mutter benachrichtigen«, schlug Ellen Langner vor. »Möglicherweise weiß Kevin doch, wo sie lebt?«
»Auf keinen Fall. Der Junge kommt doch an die Unterlagen überhaupt nicht dran, weil sie beim Jugendamt liegen – außerdem kann er noch gar nicht lesen. Er ist erst fünf Jahre alt.«
»Ist in einer Unterhaltung zwischen Ihnen und einer Mitarbeiterin eventuell mal etwas über Frau Seifert gefallen, was er aufgeschnappt haben könnte?«
Die Heimleiterin überlegte kurz. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Julia vor einiger Zeit – aber da war die Bürotür verschlossen gewesen. Kevin konnte nichts gehört haben, selbst wenn er gelauscht hätte…
*
Jetzt war Kevin schon den zweiten Tag bei Frau Schröder, und es gefiel ihm immer besser dort. Einmal hatte ihn die alte Dame gefragt, ob er denn nicht wieder nach Hause wollte – doch da hatte er einfach behauptet, daß seine Eltern im Urlaub waren und ihn sowieso die meiste Zeit allein ließen. Er hatte furchtbare Angst gehabt, daß Frau Schröder ihn wieder fortschicken würde, aber das hatte sie nicht getan.
Nach dem Waisenhaus hatte Kevin keine Sehnsucht, aber ihm fiel auf, daß er Julia vermißte. Sie war immer so nett zu ihm gewesen, hatte ihn in Ruhe gelassen, wenn er nicht spielen wollte und ihn nicht, wie die anderen Erzieherinnen, ständig überreden wollen, doch zu den anderen zu gehen.
Einen Plan, wie er seine Mutter finden konnte, hatte Kevin noch immer nicht. Frau Schröder hatte zwar ein dickes Telefonbuch, aber er wagte nicht zu fragen, ob sie nachsehen konnte, ob eine Frau Seifert