Berufung. Timothy Keller
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Möge Er den Menschen zu jedem guten Werk Seine Hilfe
und Kraft geben.
JOHN COLTRANE (JAZZ-SAXOFONIST),
AUS DEM BEIHEFT ZU „A LOVE SUPREME“
VORWORT
Im Jahre 1989 schleppte eine Kollegin mich mit in ihre Kirche – eine neue Gemeinde in Manhattan, die sich Redeemer Presbyterian Church nannte. Ich war seit Langem geimpft gegen alles, was mit Kirche zu tun hatte, nachdem ich zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Kirche, in die meine Eltern gingen, mehr Schein als Sein war und dass etwaige religiöse Neigungen, die ich haben mochte, keine Chance gegen ein aufgeklärtes Denken hatten. Doch die Redeemer-Gemeinde faszinierte mich: Der Pastor war intelligent und redete wie ein normaler Mensch, er schien die Bibel ernst zu nehmen und er versuchte, sie auf Lebensbereiche anzuwenden, die mir wichtig waren – zum Beispiel meine Arbeit.
Einige Jahre später war es so weit: Ich wurde Christin, glaubte an die Verheißungen der Bibel und stellte mein Leben unter ihre Wahrheit. Ich hatte zugegebenermaßen etwas Angst, dass dieser Schritt das Ende meiner beruflichen Ambitionen und meines Lebensstandards bedeuten könnte, hatten doch gerade zwei meiner Brüder, die auch Christen geworden waren, den „Ruf“ in den missionarischen Dienst im fernen Ausland erhalten. Einer wohnte in einem Dorf in Afrika, wo es weder fließendes Wasser noch Strom gab. Aber gut – wenn ich künftig wirklich Gott an die erste Stelle setzen wollte, musste ich wohl bereit sein, ihm überallhin zu folgen. Ein paar Wochen nach meiner Entscheidung wurde plötzlich mein Chef krank und bat mich, die Leitung der Firma zu übernehmen. Ich sah das als Wink von Gott, dass er mich nicht in der Dritten Welt einsetzen wollte, sondern in der Welt der Wirtschaft.
Die nächsten zehn Jahre hatte ich leitende Positionen in mehreren Technologie-Unternehmen in New York City, Europa und Silicon Valley inne, und täglich kämpfte ich damit, was das bedeutete – in der Geschäftswelt „zum Dienst für Gott berufen“ zu sein. Die Redeemer Church und ihr leitender Pastor, Tim Keller, hatten mir ein solides Fundament gegeben. Das Evangelium von Jesus Christus sollte mich so verändern, dass ich gegenüber meinen Mitmenschen „Gottes Werkzeug“ wurde, ja vielleicht sogar ein unverwechselbares Profil als christliche Chefin bekam. Das klang alles ganz gut, aber was hieß das bloß in der Praxis?
Die Vorbilder waren dünn gesät und schienen oft Relikte aus der Zeit zu sein, wo die meisten Amerikaner noch zur Kirche gingen. Ein Generaldirektor sagte mir, dass er auf seinem Schreibtisch immer eine Bibel liegen hatte und dass manchmal jemand in der Firma ihn darauf ansprach. Ein anderer betete für die Firma, und es ging ihr entsprechend gut. Viele sahen ihren Beruf vor allem als Gelegenheit, möglichst viel Geld zu verdienen, das sie dann wohltätigen Organisationen spendeten. Wenn ich Pastoren oder Geschäftsleute fragte, was ihr Glaube mit ihrer Arbeit zu tun hatte, antworteten sie oft, dass die Haupt-, wenn nicht einzige Aufgabe eines Christen am Arbeitsplatz darin bestand, seine Kollegen zu missionieren – worauf die meisten Geschäftsleute rasch hinzufügten, dass sie nicht die Gabe der Mission hatten. Und keine dieser Antworten berührte die Frage, was der christliche Glaube für die Art, wie jemand seine Arbeit machte, bedeutete.
Die neue Hightech-Szene der 1990er-Jahre war ziemlich von sich eingenommen. Unternehmer und Techniker waren Halbgötter, und die Antwort auf alle Probleme der Welt hieß Technologie. Meine Angestellten hatten mehr Sendungsbewusstsein, als ich das in irgendeiner Kirchengemeinde erlebt hatte, und die Hoffnung auf den baldigen Börsengang war greifbarer und motivierender als der Himmel, wie ihn so viele Christen sich vorstellten. Ich arbeitete mit vielen richtig guten Leuten, die reif und charakterstark waren – Menschen, die sich ins Zeug legten, um die Welt voranzubringen, und die dazu weder die Kirche noch den Jesus der Bibel zu brauchen schienen. Ich lernte viel über Freude am Arbeitsplatz, Geduld und Hoffnung, Teamwork und Ehrlichkeit von Menschen, die nicht meinen Glauben teilten. Die Kollegen, die am Wochenende ein Meditationsseminar gemacht hatten, schienen frischer zurückzukommen als die, die in ihren evangelikalen Gottesdienst gegangen waren. Ich fing an, meine Arbeit nicht so sehr als Ort zu sehen, wo ich Gott erfolgreich diente, sondern vielmehr als Schmiede Gottes, in der er mich zurechtklopfte und schliff und läuterte.
Doch, ich glaubte an die Wahrheit des Evangeliums – dass Gott der Schöpfer aller Dinge war, dass er den Menschen nach seinem Bild erschaffen und seinen Sohn in die Welt gesandt hatte, um ihren Zerbruch zu heilen. Und dass er für mich als Berufstätige in Führungspositionen und für so viele andere Menschen, die die Welt positiv verändern konnten, einen Plan hatte. Aber wie, um alles in der Welt, sollte ich diesem Plan folgen an meinem turbulenten Arbeitsplatz, wo es ständig darum ging, um jeden Preis Erfolg zu haben?
Die Gemeinden, in die ich ging, boten mir hier keine große Hilfe. Den meisten Pastoren schien es wichtiger zu sein, uns bei unserem Dienst in der Gemeinde zu helfen als beim Dienst draußen in der Welt. Ende der 1990er-Jahre, als das Silicon Valley boomte, schienen viele Gemeinden kein Auge zu haben für die Wunden der Welt (oder bei ihnen selber). Viele, die eigentlich ein weites Herz für die Armen hatten, machten sich keine Gedanken darüber, wie die Systeme, Strukturen und Kulturen unserer Branche womöglich zu den Rissen und Gräben in unserem Land beitrugen. Christ sein am Arbeitsplatz – das schien sich in kleinen symbolischen Gesten zu erschöpfen, im frommen Verzicht auf gewisse Verhaltensweisen und in der „richtigen“ politischen Position bei den großen kulturellen und politischen Themen des Tages.
In der letzten Firma, die ich leitete, erlebte ich Erstaunliches. Ich hatte die Firma von ihrem Gründer übernommen, der den meisten Mitarbeitern und frühen Kunden blühende Landschaften der Innovationen und Börsenkurse vor die Augen gemalt hatte. Anfang 2000 rissen sich mehrere Investmentbanken um uns, mit Börsengangprognosen von 200 bis 350 Millionen Dollar. Wir hatten noch keine Produkte, aber mehrere befanden sich in der Betaphase der Erprobung. Meine Aufgabe war es, das Vertrauen der Mitarbeiter, Investoren und Kunden zu gewinnen und Produkte zu verkaufen, die unsere Versprechen wahr machten und das nötige Geld einbrachten, damit wir schwarze Zahlen schrieben. Jeden Tag standen wir unter Hochdruck. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wo hier der Platz des Evangeliums war. Hier einige der Beobachtungen, die ich damals machte:
•Das Evangelium sagt mir, dass Gott alles, was ich tue, wichtig ist und dass er meine Gebete hört. Er erhört sie vielleicht nicht so, wie ich will, aber das liegt dann daran, dass er Dinge weiß, die ich nicht weiß. Zu seinem guten Plan für mich gehört auch, wie erfolgreich oder erfolglos ich bin. Gott ist die Quelle meiner Kraft und Ausdauer.
•Das Evangelium sagt uns weiter, dass Gott die Produkte, die wir herstellen, und die Firmen und Kunden, für die wir arbeiten, wichtig sind. Er liebt nicht nur uns, sondern auch die Welt und möchte, dass wir ihr gut dienen. Nicht zuletzt durch meine Arbeit sorgt Gott für die Menschen und macht seine Welt neu. Gott gibt uns unsere Vision und unsere Hoffnung.
•Das Evangelium ist die gute Nachricht. Mit den Worten des Pastors und Seelsorgers Jack Miller: „Kopf hoch! Du bist ein schlimmerer Sünder, als du dir je vorgestellt hast, und du bist mehr geliebt, als du je gehofft hast.“1 Mit anderen Worten: Ich werde immer wieder falschliegen und sündigen, und doch wird Gott sich durch seine Güte und Gnade in meinem Leben durchsetzen.
•Das Evangelium gibt unserer Arbeit als Führungskräften einen Sinn. Wir sollen alle Menschen und ihre Arbeit würdig behandeln und eine Umgebung schaffen, in der sie sich entfalten und ihre von Gott gegebenen Gaben zum Wohl der Gesellschaft einsetzen können. Wir sollen in den Organisationen, die wir schaffen, lebendige Verkörperungen von Gnade, Wahrheit, Hoffnung und Liebe sein.
Unsere Beziehung zu Gott und seiner Gnade hat in der Art, wie wir reden, arbeiten und führen zum Ausdruck zu kommen – nicht als die, die alles richtig machen, sondern als Wegweiser zu Christus.
Nach