Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele
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Читать онлайн книгу Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele страница 15
Paul hebt mein Gesicht und küsst mich. »Klar habe ich, wer denn sonst?«
Die Bänder meiner Schlittschuhe verknoten wir gemeinsam, dann nimmt er meine Hand.
»Du meintest, von euch beiden Zwillingsschwestern wärest du der Tollpatsch, aber jetzt hast du ja mich. Ich werde aufpassen, dass dir nichts passiert.«
»Die Eislaufschuhe. Die sind doch viel zu teuer. Aber sie passen wie angegossen. Woher wusstest du, welche Größe ich trage?«
»Das Kunstwerk liegt immer im Auge des Betrachters«, erwidert er, und seine braunen Augen funkeln vergnügt.
»Hast du mit Anne darüber gesprochen?« Fragend sehe ich zu ihm hoch.
Seine Miene versteinert. »Mit Anne? Wie kommst du auf so eine Idee? Komm.«
Schon gleiten wir über das Eis. Seine Hand führt mich und gibt mir Sicherheit. Ich beginne zu schweben, und in mir breitet sich ein Glücksgefühl aus, wie ich es zuvor selten empfunden habe.
Wir müssen schon einige Runden gedreht haben, verzauberte Runden, da sehe ich erst die Köstlichkeiten, die Paul an der Bande zu den Zuschauerreihen hin aufgebaut hat. Ungläubig starre ich auf die beschlagene Flasche im Kühler, die Sektflöten und die silberne Platte mit belegten Brötchen.
»Für dich musste ich mir etwas Besonderes einfallen lassen.« Seine Hand drückt meine zärtlich.
»Das ist dir leider nicht gelungen«, necke ich ihn, und pure Lebensfreude kommt in mir auf. Beschwingt drehe ich mich zu ihm um und küsse ihn. Sein Bart kratzt über meine Gesichtshaut, aber das stört mich nicht, ich finde es sexy. Paul presst mich an sich und lässt seine Hand unter meinen Wollpulli gleiten.
»Das war erst die Vorspeise«, sagt er und hebt mich hoch. Er wirbelt mich durch die Luft und setzt mich sanft wieder ab.
Alle Unsicherheit in mir hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.
ANNE
Lili ruft an. Schon wieder. Ununterbrochen klingelt das Telefon.
Zuerst rührt sie sich tagelang nicht, und jetzt kann sie nicht damit aufhören.
Ihr Verhalten erinnert mich an unsere Kinderspiele. Wer sieht beim Bockschauen als Erstes weg, kann den Blick des anderen keine Zehntelsekunde länger ertragen? Lilis Augen zuckten und schlossen sich. Wer kann versteinern und zur Statue erstarren, bis man erlöst wird? Lili bewegte sich und verlor. Es langweilte mich, in meiner Schwester keine ebenbürtige Gegnerin zu finden. Manchmal war ich hässlich zu ihr, richtig gemein, um sie zum Widerspruch herauszufordern.
Doch anders als damals ist es heute kein Spiel, bei dem die Stärkere siegt, sondern eine vertrackte Angelegenheit, in die ich mich leichtfertig hineinmanövriert habe und bei der ich nun nicht mehr weiß, wie ich ohne Kollateralschäden wieder herauskomme. Hebe ich das Telefon ab, muss ich mit ihr reden. Reden wir miteinander, wird sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Doch um keinen Preis der Welt kann ich ihr von Paul und mir erzählen.
Hebe ich nicht ab, wird sie, so wie es nun mal ihre Art ist, auf andere Weise versuchen, mich an die Strippe zu kriegen. Sie könnte zum Beispiel mit einer mir unbekannten Nummer anrufen oder Julia überreden, den Kontakt herzustellen. Und wenn das alles nichts nützt, steht sie irgendwann vor meiner Tür. Im schlimmsten Fall genau dann, wenn Paul das Haus verlässt.
Verdammt.
Paul.
Ich muss ihn loswerden.
Mein ganzes Leben lang habe ich mich stets in die bösen Jungs verguckt und mich in aussichtslose Affären gestürzt. Schmerzhaft und desillusionierend, eine Charakterschwäche. Aber diesmal habe ich den Vogel abgeschossen, ich bin ja nicht mal in den Kerl verliebt. So viel steht fest. Wahrscheinlich war es einzig mein verletzter Stolz. Als ich sah, dass Paul Lili mir vorzog, konnte ich es nicht akzeptieren.
Was, frage ich mich, ist schlimmer als Selbstanalyse? Richtig, das, was dabei herauskommt.
Und ja, manchmal mag ich mich selbst nicht, aber ich bin wie ich bin, und jetzt stecke ich in einer klassischen Zwickmühle und habe sie mir auch noch selbst gebaut.
Es gibt nur eine Lösung: Ich muss das, was auch immer es ist, das ich mit Paul habe, beenden. Sonst kann ich meiner Schwester nicht mehr in die Augen schauen.
Wieder klingelt es, wieder lege ich das Handy weg, drehe es um, sodass ich den Schriftzug ihres Namens auf dem Display nicht sehe.
Ich probe halblaut den Abschied. Morgen Abend will Paul mich besuchen, bis dahin werde ich die richtigen Worte gefunden haben.
Jetzt aber muss ich in die Redaktion.
Als ich mich fertig mache, blickt mir im Spiegel ein strenges, förmliches Selbst meiner Person entgegen. Das Kleid, das ich anziehe, trage ich gerne bei offiziellen Terminen. Es ist dunkelgrau mit feinen hellgrauen Nadelstreifen, und es macht mich ernst und sehr schlank. Dazu setze ich eine schwarze Brille auf. Ich schlüpfe in meine Daunenjacke; es ist jene, die ich zum letzten Mal anhatte, als ich mit Lili durch den Schnee lief.
Vor der Haustür schlägt mir die Kälte entgegen wie eine Wand aus Stahl, und ich schnappe nach Luft.
Auf einmal steht Paul vor mir und grinst über das ganze Gesicht. In seinem Bart schimmern Eiskristalle.
»Was …?«, bringe ich mit einem Hauch gefrorener Atemluft hervor, als er meinen Mund auch schon mit einem Kuss verschließt. Ich wende den Kopf, stemme meine Hände gegen seine Brust, er aber packt unwillig meinen Arm und zieht mich zur Haustür.
Und ich? Ich stolpere hilflos neben ihm her und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien.
»Lass das«, herrscht er mich an und zieht energisch die Tür hinter uns ins Schloss.
Das Deckenlicht ist noch an und erhellt seine Gesichtszüge. Sie wirken verzerrt, aggressiv.
Dann wird es dunkel im Flur. Ich will zum Lichtschalter greifen, aber Paul stößt meine Hand beiseite.
»Paul«, meine Stimme klingt belegt, »komm rauf, in die Wohnung.« Ich taste nach seiner Hand, erwische aber nur den rauen Stoff seines Ärmels.
Statt einer Antwort drängt er mich gegen die Wand und küsst mich. Es ist kein zärtlicher Kuss, er ist wild und fordernd, und er schmeckt nach Bier und nach paniertem Fisch. Wieder versuche ich, den Kopf wegzudrehen, aber er hält mein Gesicht eisern umklammert.
Die Haustür springt auf, wieder wird es hell, und eine der Nachbarinnen, mit einem kleinen Kind an der Hand, mustert mich pikiert.
Wir grüßen einander, dann ist sie an uns vorbei.
»Paul«, flüstere ich, »das ist peinlich.«
»Peinlich?« Er knurrt wie ein Tier in mein Ohr, und alle Härchen auf meiner Haut stellen sich auf.
Abermals drängt er mich brutal gegen die Wand. Meine Brille fällt dabei zu Boden, und das Glas bricht. Ich zittere. Mit einer Hand greift er in mein Haar und zieht mein Gesicht an seines, mit der anderen schiebt er mein Kleid hoch.
»Nein!«,