Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele

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Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele

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erinnert mehr an den, der er gestern noch war. Trotzdem muss er vermeiden, von jemandem aus dem Motel gesehen zu werden.

      Das neue Gesicht ist sein Kapital.

      Langsam öffnet er die Tür und späht misstrauisch hinaus.

      Die Schlagzeile der Zeitung auf seiner Fußmatte springt ihn förmlich an: »Mörderische Messerattacke«. Daneben ein Foto des Hauses, in dem er gestern nach Lili gesucht hat.

      Paul zuckt zurück, dann ergreift er die Tageszeitung und hastet ohne nach links oder rechts zu schauen zu seinem Wagen.

      Der gestohlene weiße Golf steht, wo er ihn gut verborgen abgestellt hat. Ein schaler Geruch empfängt ihn im Inneren des Fahrzeugs. Wahrscheinlich ist die Polsterung irgendwann nass geworden und modert vor sich hin.

      Beim Starten zittern seine Finger. Fast von allein findet das Auto den Weg. Hin zum alten Wohnwagen, der, überwachsen von Farnen, sein Fluchtpunkt als Jugendlicher war und der ihn noch ein letztes Mal aufnehmen muss.

      Was vorhin unklar und verwirrend war, erscheint ihm nun, im Tageslicht, wieder gestochen scharf.

      Neben ihm rascheln die Seiten der Zeitung im Fahrtwind.

      Als er den Golf auf einem riesigen Auffangparkplatz abstellt, atmet er auf. So schnell wird das Auto hier keiner finden. Er greift nach hinten und nimmt den Seesack von der Rückbank, die letzten Kilometer zu seinem Versteck will er zu Fuß gehen. Die Zeitung ist nach unten gerutscht und liegt nun aufgeschlagen auf dem Boden des Fahrzeugs.

      »Nach einem brutalen Messerattentat schwebt das Opfer in Lebensgefahr. Nur dem raschen Einschreiten der Polizei ist es zu verdanken, dass die junge Frau nicht am Tatort verblutete. Sie und ihre Tochter konnten in Sicherheit gebracht werden. Nach dem Täter wird gefahndet.«

      Lange Zeit sitzt Paul da und starrt auf die Sätze, bis die Buchstaben verschwimmen.

      Anne lebt. Er ist nicht ihr Mörder.

      Da steht es, und doch kann er es nicht glauben.

      Paul senkt seine Stirn auf das Lenkrad. Es ist, als ströme neue Kraft in seinen Körper.

      Eines ist ihm soeben klar geworden. Niemals wird Lili freiwillig zu ihm zurückkommen.

      5

      Hanna.

      Ihre weichen Handflächen streicheln ungelenk über meine Gesichtshaut. Auf und ab. Hin und her. Die Berührungen erinnern mich an ein Peeling aus grobkörnigem Meersalz. Wenn es nur nicht so wehtäte.

      »Mami?«

      »Hanna, bitte setz dich. Wir müssen vorsichtig mit ihr umgehen.«

      Vorsichtig?

      Ich will unsere Namen aussprechen, doch meine Lippen fühlen sich an wie dick gewundene Seile aus Hanf.

      Lili. Anne. Lilianne.

      Zwei, die eins geworden sind.

      Mit geschickten Fingern wird mein Nacken angehoben.

      »Das unterlassen Sie besser.« Ein Schattenriss schiebt sich zwischen uns.

      »Wer sind Sie?« Der Tonfall meiner Schwester klingt herausfordernd.

      Die Antwort erfolgt wohltönend: »Mein Name ist Jonas. Ich bin der Physiotherapeut. Ihre Schwester, Lili Parker, ist meine Patientin.«

      Heiterkeit erfasst mich. Jonas und der Wal? Bin ich die Prophetin und er der große Fisch mit den freundlichen Augen? Sind wir einander in den Tiefen des Ozeans begegnet?

      »Wie jetzt? Jonas vorne oder Jonas hinten?«

      Wer hat das gefragt?

      Wenn ich nur sehen könnte. Doch sosehr ich mich anstrenge, meine Lider kleben wie verschweißt an meinen Augen. Ich kann mich nicht bewegen, nur ahnen, wo Kopf, Hände und Füße sich befinden. Doch spüren kann ich mit einem Mal, wie die Kleine sich an mich schmiegt.

      »Wach auf! Wach auf!«

      Beruhigende Worte schwirren durch meinen Kopf, doch ich bin unfähig, ihnen eine Stimme zu geben.

      »Hanna, alles wird gut. Wir machen hier Übungen, damit sich unsere Patientin schnell erholt und bald wieder wach ist, um mit dir spielen zu können.«

      So gern möchte ich ihr bestätigen, dass es wahr ist, aber es geht nicht.

      Ich will nicht sterben.

      Ich will wieder gesund werden.

      »Der Arzt sagte, meine Schwester sei ins Koma gefallen. Was heißt das genau, Jonas? Und wann wacht sie endlich daraus auf?«

      »Der vegetative Zustand, in dem Lili sich befindet, ist vergleichbar mit einem langen Schlaf voll von Träumen. Ob sie etwas hören, sehen oder empfinden kann, wissen wir nicht. Erst mal warten wir auf die Ergebnisse von EEG, Hörtest und so weiter. Danach sehen wir klarer. Die Ärzte werden Ihnen alles genau erklären. Jedenfalls hat Ihre Schwester durch den Messerstich in den Hals sehr viel Blut verloren. Der Schnitt verfehlte nur knapp die Schlagader. Erschwerend kommt die durch den Sturz verursachte massive Blutung im Kopf hinzu, die für ihren jetzigen Zustand hauptverantwortlich ist. Es stand eine Zeit lang sehr schlecht um sie, aber das wissen Sie ja.«

      Die Stimme des Therapeuten klingt monoton, ohne Höhen und Tiefen, und wirkt entspannend auf mich.

      »Dass die Patientin wiederbelebt werden musste, hat die Situation nicht eben erleichtert. Einerseits braucht sie Ruhe, um Kraft zu finden, andererseits ist es notwendig, ihre Körperfunktionen zu aktivieren. Das ist mein Part. Ich habe dafür zu sorgen, dass ihre Muskeln nicht erschlaffen.«

      Ich bin wach.

      Mit aller Kraft versuche ich, meinen Mund zu öffnen, zu sprechen, zu blinzeln. Es will mir nicht gelingen.

      Ein Stöhnen schwebt an mir vorbei zum Fenster hinaus.

      »Jonas«, die Stimme an meiner Seite schwillt an, »um Gottes willen, sehen Sie doch. Meine Schwester ist leichenblass, ihre Lippen haben sich violett verfärbt. Helfen Sie ihr! Sie stirbt!«

      Hannas Schluchzen zerreißt etwas in mir. »Ratsch« machen die scharf geschliffenen Klingen der Schere, und feines Seidenpapier flattert in Streifen zerteilt zu Boden.

      Schrille Töne vermischen sich mit lärmenden Stimmen.

      »Bringen Sie das Kind hinaus. Sofort!«

      Jetzt ist nur noch zähflüssige Tintenschwärze um mich herum. Seltsam gelassen treibe ich auf das weit geöffnete Maul des Wals zu.

      Mit einem Mal steht meine Zwillingsschwester vor mir. Ihre Augen funkeln entschlossen. Mit einer einzigen kräftigen Bewegung zieht sie mich hoch und versetzt mir eine schallende Ohrfeige.

      »Wach auf!«, höre ich sie schreien. »Das kannst du uns nicht antun.« Dann schlägt sie wieder in mein Gesicht.

      »Sind Sie verrückt? Beruhigen Sie sich«, sagt

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