Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele
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Читать онлайн книгу Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele страница 5
Ein Blitz zuckt hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Elektrizität glüht in meinem Körper, Strom jagt durch meine Adern. Etwas Metallenes saugt sich an meine Haut, die kreisrunden Flächen kühlen mein Fleisch.
Ich werde über einer Feuerstelle gegrillt und schnelle nach oben. Meine Stirn kracht gegen die Zimmerdecke, ein Schrei löst meine verklebten Lippen. Mit Schwung pralle ich von der Wand ab und falle. Unten erwarten mich spitze Nadeln. Wimmernd sinke ich auf das Leintuch, aus dem riesige Zimmermannsnägel ragen. Je länger ich liege, desto weniger nehme ich mich wahr.
Irgendwann erhebe ich mich von meinem Lager und schwebe durch den Raum. Schwerelosigkeit überkommt mich. Ich fühle mich benommen, als hätte jemand eine Glasglocke über meinen Kopf gestülpt.
Eine kaum zu hörende, von Zweifeln erfüllte Stimme flüstert: »Du darfst nicht sterben.«
Warum nur torkeln die Worte wie betrunken über die Zeilen im Schönschreibheft?
Als ich erkenne, dass niemand anderer als ich selbst es bin, die da spricht, biete ich all meine Überzeugungskraft auf.
»Du wirst nicht sterben.«
Die Worte üben eine suggestive Kraft auf mich aus, sie gleichen einer festen Order, beruhigend in ihrer Gewissheit. Sie geben mir Sicherheit, die ich jetzt dringender als alles andere brauche.
Die durch das Fenster hereinstrahlende Sonne bildet konzentrische Kreise in Spektralfarben an der Zimmerdecke. Alles sehe ich klar und frage mich doch, was Einbildung ist und was Realität. Eben vermengt sich der Geruch nach Jod, Algen und Salz mit der sterilen Krankenhausluft, Sekunden später schaukle ich in einer Jolle über das Mittelmeer und genieße den Tag. Unbeschwert stoße ich mich vom Bootsrand ab und gleite ins kühl prickelnde Blau. Lange Zeit wiege ich mich in der Strömung. Eine sanfte Brise streichelt mein erhitztes Gesicht.
Später vertäue ich den Kahn an einem muschelüberwucherten Steg und lache dem Sommer entgegen. Übermütig grabe ich meine Zehennägel in den heißen Sand. Weit draußen auf dem Meer tanzen Bojen über den Horizont. Wellen plätschern ans Ufer, weißer Schaum kräuselt sich auf der Oberfläche.
Dann steht Paul neben mir, sein Arm packt meine Schultern. Essenzen von Kreuzkümmel und Moos mischen sich mit salziger Seeluft. Durch halb geschlossene Wimpern sehe ich seine Augen. Doch sosehr ich mich auch bemühe, es will mir nicht gelingen, das Braun zu durchdringen. Wie eine Wand verhindert es den Blick in Pauls Innerstes.
Dumpfes Pochen in meinen Schläfen, ein Specht hämmert gegen die Rinde eines Baumstamms im nahen undurchlässig wirkenden Wald. Ich irre zwischen Sträuchern und Hecken umher, zerkratze mir Arme und Beine an den Dornen wild wuchernder Himbeeren und Brombeeren. Verzweifelt suche ich den Weg aus dem Dickicht, stolpere über Wurzeln, verfange mich in Farnen, die wie Arme nach meinem Körper greifen. Unter mir kriechen Schlangen durch das Gehölz.
Ich habe den Kopf verloren. Nein. Mein Kopf hat meinen Körper verloren. Unmittelbar vor mir öffnet sich ein pechschwarzes Loch. Tiefste Dunkelheit. Meine Finger krallen sich in die lehmige Erde, versuchen, den Sturz in die Tiefe zu vermeiden, aufzuhalten, ihn abzufangen. Je heftiger ich mich darum bemühe, umso stärker weicht die Kraft aus meinen Händen. Die Finger erschlaffen, bis sie schließlich loslassen müssen.
Ich falle.
Schlamm gelangt in meinen Mund, rutscht tiefer hinunter, erreicht Lunge und Magen. Ich huste, spucke.
Mit einem letzten Schrei öffne ich die Augen.
Und starre auf meinen Leichnam.
6
Anne lebt.
Eigentlich wollte Paul abwarten, sich verstecken, bis der erste Fahndungsdruck nachgelassen hätte, doch jetzt muss er handeln. Sofort. Denn wenn Anne überlebt hat, wird sie nach ihrem Kind verlangen. Immer wieder spielt er unterschiedliche Szenarien durch. Eine Gewissheit sticht klar hervor: Das Kind ist der Schlüssel zu Lili. Sie wird das Mädchen zu seiner Mutter ins Krankenhaus bringen.
Zuallererst muss er also Anne in ihrem Krankenbett finden. Alles andere wird sich danach von selbst ergeben.
Paul atmet durch und startet erneut den Motor. Er verlässt den Parkplatz, wendet und fährt zurück in die Stadt, aus der er vorhin gekommen ist.
Die Aprilsonne, ein früher Bote des kommenden Sommers, brennt viel zu heiß für die Jahreszeit durch die Windschutzscheibe. Wie sehr er diese Tage verabscheut, die zu sein vorgeben, was sie nicht sind. Nichts als Täuschung. Frühling bleibt Frühling.
Später, wenn seine Lili wieder bei ihm ist, verfällt Paul ins Träumen, werden sie viel Zeit in kühlen Räumen verbringen. Und sobald sie ein Kind haben, er wünscht sich ein kleines Mädchen, will er ihr vorlesen, Geschichten aus Büchern mit Bildern von Prinzessinnen und Tieren. So oft und so lange, bis sie alles auswendig kann. Sie wird ihn schon in jungen Jahren mit dieser Fähigkeit verzaubern. Er ist sich sicher, dass seine Tochter bereits mit zwei Jahren das Lesen beherrschen wird. Ungern nur schiebt er diese Bilder einer schönen Zukunft beiseite.
Nicht weit vom Zentrum der Stadt entfernt, stellt er das Auto in einer Nebenstraße ab. Trotz seines veränderten Aussehens muss er vorsichtig sein. Nichts, schon gar kein gestohlener Wagen, darf die Aufmerksamkeit der Polizei auf ihn lenken, aber um gewisse Besorgungen kommt er nicht umhin.
Mit weit ausholenden Schritten macht er sich auf den Weg in die Innenstadt.
Es klingelt, als er die Tür des Berufsbekleidungsgeschäfts aufstößt. Eine ältere, leicht gebeugte Frau, die nach Zwiebeln riecht, zeigt ihm unterschiedliche Hosen. Ärztekittel habe sie allerdings keine, erklärt sie, die würden nur im Versandhandel für den medizinischen Bedarf angeboten, aber die Ausstattung der Zuckerbäcker ähnele jener der Ärzte in erstaunlicher Weise.
Paul verlässt den Laden mit einer großen Einkaufstasche, in der sich eine weiße Hose sowie ein weißer Kittel mit großen Brusttaschen befinden. Der Verkäuferin hat er erzählt, er wolle sich für eine Mottoparty bei Freunden verkleiden.
»Bei uns hieß das damals Faschingsfete.«
Eher Walpurgisnacht, hätte er der Alten am liebsten geantwortet, jedoch wohlwollend genickt.
Im Supermarkt an der Ecke kauft er einen schwarzen Wäschestift, eine Brille aus Fensterglas mit dunkler Fassung, zwei Kugelschreiber, ein Lineal, einen Stadtplan, ein Wertkartenhandy, eine Packung Latex-Handschuhe und weiße Sandalen aus Hartgummi.
Verschwitzt setzt er sich danach auf einen Plastikstuhl in der angrenzenden Frittenbude. Sein Magen knurrt. Ihm wird bewusst, wie hungrig er ist. Seit gestern hat er nichts mehr gegessen.
Als die pickelige Bedienung mit Bestellblock und Stift in der Hand gemächlich auf ihn zuschlendert, lässt Paul seiner Ungeduld freien Lauf. »Etwas mehr Beeilung kann nicht schaden«, schimpft er und tippt auf ein Bild in der Speisekarte. »Das hier mit scharfer Tunke und eine Extraportion Senf.«
Gelangweilt streckt er kurz darauf seine Beine von sich und schaufelt Pommes und Burger in sich hinein, bis auf dem Pappteller nur noch Ketchup- und Senfspuren übrig bleiben. Durstig stürzt er ein Glas Wasser hinunter und ordert eine Tasse Kaffee.