Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
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Wollte man dieses Argument in quantitative Werte übersetzen, könnte man sagen, dass eine Strafe [peine], um eine Strafe zu sein, so groß sie auch sein mag, begrenzt, endlich sein muss, dem Maß des Lebens oder der sterblichen Existenz des bestraften Subjekts entsprechen muss. Sie muss für es, für das bestrafte Rechtssubjekt, etwas sein, dem gegenüber es Subjekt [sujet], dem es unterworfen [assujetti] sein kann, etwas, das es erleiden oder ertragen kann. Sobald sie keine endliche Strafe mehr ist, sobald sie diese Grenze überschreitet, und sobald sie just über das endliche Leben des bestraften Subjekts hinausgeht, wird die Strafe, die Todesstrafe unendlich und verliert dadurch also ihr Wesen [essence] einer Strafe, ihren Strafwert. Eine unendliche Strafe, ist das noch eine Strafe? Eine menschliche Strafe? Das ist vielleicht eine göttliche Strafe, oder einem unendlichen Wesen [être] angemessen, aber ist das eine endliche Strafe, einem endlichen Wesen, und sei es vernünftig, angemessen? Im Augenblick des Todes, wenn es denn einen gibt, denn alles spielt sich da ab, zwischen dem Moment, in dem der Verurteilte noch lebendig und also noch nicht bestraft ist, und dem Moment, in dem er bestraft und nicht mehr lebendig, sondern bereits tot ist (so dass niemand je mit der Todesstrafe bestraft worden sein wird) [Im Augenblick des Todes, wenn es denn einen gibt], sobald der Tod eintritt, kann das Leben, außerhalb einer Opferlogik, außerhalb einer Szene der Rache oder der Revanche, der sich das Recht ja gerade entziehen will, [kann also das Leben] kein Wechselgeld, keine Bezahlung, kein Entgelt mehr sein. Wir werden später noch, im Kielwasser Kants, die Folgen, bestimmte Folgen davon sehen.
Der unmittelbare Übergang vom Entgelt, im Bösen, zur Entlohnung, im Guten, ist bereits der Übergang zwischen strafen und ehren. Die gemeinsame Idee von Kompensation, von Entgelt als Kompensation, von Preis, von dem, was bezahlt oder als Preis, ja als Prämie, als Entlohnung gegeben wird, sichert die Verbindung zwischen der Bestrafung, die eine Missetat entgilt, bezahlt, wiedergutmacht oder sanktioniert, und der Ehre, dem Ruhm, der Würde, die eine Wohltat oder eine Glanzleistung entgilt oder sanktioniert.
In beiden Fällen handelt es sich um eine Großtat [exploit], um einen außerordentlichen Akt [acte extraordinaire], sei diese Großtat, dieser außerordentliche Akt nun eine zu ehrende und mit Ruhm und Ehre zu entlohnende Glanzleistung, oder sei diese Ausnahmetat oder dieser Ausnahmeakt ein Verbrechen, das mit einer sichtbaren, öffentlichen, spektakulären Bestrafung zu entgelten ist. Letztes Mal hatte ich, sowohl Kant als auch Genet in Erinnerung rufend, die Gründe genannt, die wir hatten, um uns für jene Würde zu interessieren, die sowohl das Verbrechen als auch die diesbezügliche Verurteilung zum Tode zur Höhe des Ruhms [gloire] erhebt. Ich hätte, im selben Geiste, auch Walter Benjamin zitieren können. Ich habe es nicht getan, weil ich dem Essay, in dem Benjamin uns Interessantes zu diesem Thema, zum Thema der unausweichlichen Glorifizierung des Verbrechers sagt, nämlich „Zur Kritik der Gewalt“*10, einst ein kleines Buch gewidmet hatte, Gesetzeskraft11. Ich werde hier nicht die Lektüre des gesamten Essays noch einmal entwickeln; im Übrigen müsste ich artikulieren, was ich zur Dekonstruktion einer bestimmten Logik in diesem Essay sagte, einer Dekonstruktion, bezüglich derer ich damals nahelegte, dass sie nicht von außen auf diesen Text angewendet wird12, der in gewissen Aspekten und gewissen historisch-politischen Zügen ebenso schmittianisch wie heideggerianisch ist, [einer Dekonstruktion also, die nicht von außen auf Zur Kritik der Gewalt* angewendet wird, genauso wenig wie auf irgendeinen anderen Text, sondern die sich in gewisser Weise dort am Werk findet, unmittelbar am Werk selbst, als eine Auto-Hetero-Dekonstruktion, unmittelbar am [à même] oder im denkenden Operieren und Schreiben des Textes selbst [texte même]]; diese damalige Lektüre würde ich also heute, um die Todesstrafe und die Souveränität herum, anders artikulieren, und zwar umso mehr, als das Motiv der Bestrafung im Zentrum dieses Textes steht, der vor allem ein Text über das Recht und die Gerechtigkeit ist. Ich entnehme ihm heute nur zwei Motive.
1. Erstes Motiv: der „‚große‘ Verbrecher“ und die „Monopolisierung der Gewalt“. Benjamin insistiert auf dem, was er „das Interesse des Rechts“13 nennt. Das Recht ist interessiert. Das Interesse des Rechts besteht nicht schlicht und einfach darin, die Gewalt zu verbieten oder zu unterdrücken, sondern im Gegenteil darin, die Gewalt zu monopolisieren, das heißt, sie in Wirklichkeit ganz auf Seiten des Staates zu akkumulieren, zu kapitalisieren, der sie bewahrt, der das Monopol auf sie hält, gegen die Individuen. Diese Monopolisierung der virtuellen oder aktuellen Kraft oder Gewalt dessen, was im Wort Gewalt* („Monopolisierung der Gewalt“*, sagt Benjamin14) sowohl die Gewalt bezeichnet (violence, womit Gewalt* oft übersetzt wird, wenngleich diese Übersetzung für das Wort, das Walter Benjamin hier verwendet, ungenügend ist) [was also sowohl die Gewalt bezeichnet] als auch die autorisierte Kraft [force], die für legitim gehaltene Macht [pouvoir], die Gesetzeskraft [force de loi], die Autorität, diese Monopolisierung der Gewalt durch den Staat, durch das Recht, durch den Zustand [état] des Rechts, den ein Staat [État] repräsentiert, diese Monopolisierung der Gewalt* gehorcht dem, was Benjamin eine Maxime nennt.
Diese Maxime wird als eine Maxime des europäischen Rechts präsentiert. Benjamin verhält sich hier zugleich wie ein Schüler oder Bewunderer Carl Schmitts, dem er diesen Essay schickt und von dem er ein Glückwunschschreiben zum Erscheinen von „Zur Kritik der Gewalt“ erhält (es gab zwischen ihnen auch einen signifikanten Briefwechsel). Als Schmittianer, zumindest in dieser Hinsicht, interessiert sich Benjamin für das europäische Recht, für das, was den Unterschied des europäischen Rechts ausmacht, den Unterschied zwischen dem europäischen Recht, in seiner griechischen oder römischen Tradition, und der jüdischen Gerechtigkeit. Wenn Benjamin Recht sagt, versteht er darunter implizit oder sagt er explizit europäisches Recht. Die fragliche Maxime, also die Maxime „gegenwärtiger europäischer Gesetzgebung“*15, besteht darin, dass, wenn natürliche Zielsetzungen, natürliche Finalitäten, natürliche Ziele („Naturzwecke“*: übersetzen wir mit Bedürfnisse, Begehren, Leidenschaften, Interessen aller Art, und Benjamin unterscheidet hier nicht zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten, dem bewussten Verlangen und dem unbewussten Begehren usw.), wenn also all diese spontanen Bewegungen mit Gewalt ans Ziel gelangen, wenn all diese natürlichen Tendenzen mit Gewalt verfolgt, verwirklicht werden, dass sie dann mit den „Rechtszwecken“*, den Finalitäten des Rechts, kollidieren können.
Warum? Hier öffnet Benjamin eine kurze Klammer, in der sich jedoch unsere gesamte Problematik als ein Abgrund auftun könnte, und er weiß das wohl, und er sagt das in gewisser Weise auch, nämlich die Frage der legitimen Verteidigung, des „Rechts auf Notwehr“*16. Benjamin merkt in dieser Klammer an, dass dieser Widerspruch zwischen den Naturzwecken (also Bedürfnissen, Begehren, Trieben des Lebendigen, in seinem Bewusstsein oder in seinem Unbewussten) und den Rechtszwecken ebenjener Widerspruch sei, den der Begriff der Notwehr repräsentiert, und dass diese Frage der Notwehr ihre Erhellung (Erklärung*) in den weiteren Überlegungen finden würde; was bedeutet, dass Benjamin, so sagt er uns in dieser Klammer, den ganzen Essay hindurch vom Problem der Notwehr handeln wird, selbst wenn er nicht direkt davon spricht.
Was ist Notwehr? Das ganze Problem des Rechts und, sagen wir, insbesondere der Todesstrafe, wird oft als eine Frage der Notwehr interpretiert, als Notwehr der Gesellschaft gegenüber dem Verbrecher oder einer Gefahr, die das eigene Leben bedroht. Wir haben es hierbei mit einer Interpretation der Notwehr zu tun, die immer offen ist: Im Prinzip, stricto sensu, ist die Notwehr eines Bürgers, wenn sie auch durch bestimmte Rechte erlaubt oder toleriert sein kann, nicht äquivalent, stricto sensu also, zu einer Todesstrafe, die von einem Individuum ausgeführt würde, das sich in einer Situation der Bedrohung oder der Gefahr für das eigene Leben selbst Gerechtigkeit verschafft. In einem weiteren, ja bildlichen, metaphorischen Sinne aber hat man die Todesstrafe als einen Notwehr-Reflex der Gesellschaft,