Mörder-Quoten. Leo Lukas

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Mörder-Quoten - Leo Lukas

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Beistand in Anspruch nehmen sollte. Wie könnte er sich jemals wieder auf die Straße wagen, wenn er sich selbst nicht mehr völlig vertraute?

      Seine verdeckten Suchanfragen werfen zwei Psychiater aus, denen im Schattennetz höchste Diskretion zugebilligt wird. Einer davon ordiniert in Linz. Er ist spezialisiert auf Aussteiger, die ihre rechtsradikale Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Der andere, ein DDr. Gustav Guthmann, ist in Graz ansässig. Mehrere hymnische Einträge weisen ihn als einen Therapeuten aus, der nichts an die Behörden verrät, wie schlimm auch immer die Geständnisse seiner Klienten sein mögen.

      Der Bravo telefoniert. Dann beendet er das Frühstück. Wieder etwas zuversichtlicher, räumt er die Küche zusammen, zieht angemessene Kleidung an, wirft den Müllsack in einen drei Häuserblocks weiter gelegenen Kübel und fährt nach Graz.

       3

      „Ah ja“, sagte ich. „Und da sind Sie nun.“

      „Sie verstehen, was ich mir von Ihnen erhoffe?“

      „Im Prinzip schon. Aber mir fehlen noch ein paar Details“, wich ich einer klaren Antwort aus. „Dieser Vorfall in Wien, wann war der genau?“

      „Letzte Nacht“, sagte der Mann, der sich Bravo nannte, mit seiner gleichförmig unaufdringlichen Stimme. „Sie sind der Experte. Kennen Sie Erkrankungen, die auf meinen Fall zutreffen könnten?“

      Quietschend ging die Tür auf. Professor Gustav Guthmann schlapfte herein, unter dem einen Arm eine Aktentasche eingeklemmt, in der anderen Hand das Endstück eines Salzstangerls, das er sich gerade in den Mund stecken wollte. Er hielt in der Bewegung inne, hüstelte und sagte „Oh. Servus, Pez. Beinahe hätte ich vergessen …“

      Dann bemerkte er die andere Person im Raum und fragte, die Augen zusammenkneifend, „Und wer sind Sie?“

      Peinlichen Konfrontationen wich ich prinzipiell aus, seit ich zu einigermaßen rationalem Denken fähig war. Deshalb rief ich Gugu nur aufgesetzt heiter zu: „Muss weg, zum Bahnhof! Buch liegt am Tisch“ und nahm rückwärts Reißaus.

      Abgang Peter Szily, links hinten.

      Kein Applaus, wie gewohnt.

      Zum Glück war der Zug nach Wien recht schütter bevölkert. Keiner der Vierertische im ersten Waggon war gänzlich unbesetzt. Mit geübtem Blick erspähte ich jedoch eine allein reisende, üppig gebaute ältere Dame, deren buntes Dirndlkleid und kleines Gepäck – eine altrosa Kunstleder-Handtasche sowie ein praller Papiersack des Traditionskaufhauses Kastner & Öhler – zur Hoffnung Anlass gab, sie würde in Bruck an der Mur umsteigen, zwecks Anschluss in Richtung ihrer alpinen Heimat.

      Mit meiner schmelzendsten Erbschleicherstimme fragte ich: „Ist hier bitte noch frei, gnädige Frau?“

      Sie bejahte. Ich nahm Platz, packte mein iPad aus und atmete tief durch. Wenn ich ehrlich war, hatte mich die Unterhaltung mit dem Mann, der sich als Bravo ausgab, doch ziemlich aufgewühlt und verwirrt. Was er erzählt hatte, war teilweise zu realistisch geschildert gewesen, als dass ich es purer Fantasterei hätte zuschreiben können. Ergo googelte ich, sobald sich die wie immer zickige Internetverbindung der ÖBB etabliert hatte, die naheliegenden Stichwörter.

      Ein Gasgebrechen am Dombrowski-Platz in Wien forderte in den frühen Morgenstunden ein Todesopfer und drei Leichtverletzte. Als Ursache nimmt die Polizei unsachgemäßes Hantieren am Gasherd eines Wettbüros im Erdgeschoß an, das durch die Explosion zur Gänze zerstört wurde. Dabei kam der Lokalbetreiber Hugo P. (52) ums Leben. In den darüber liegenden Stockwerken gingen aufgrund der Erschütterung Einrichtungsgegenstände und Fensterscheiben zu Bruch, wodurch drei Personen Schnittverletzungen erlitten. Der rechtzeitig eingetroffenen Wiener Berufsfeuerwehr gelang es, die Ausbreitung eines Brandes zu verhindern. Sicherheitshalber wurden die Hausbewohner evakuiert.

      Beim Wort Schnittverletzungen musste ich an die vom Bravo beschriebene klaffende Halswunde des Buchmachers denken. Davon stand freilich nichts in dem einspaltigen Artikel, der übrigens mit 9.25 Uhr datiert war. Das hätte Gugus unheimlich unauffälliger Klient also schon deutlich vor mir gelesen haben können.

      Ähnliches galt für das erwähnte Ölbild. Die Homepage des KHM bestätigte, dass es seit geraumer Zeit im Saal VIII ausgestellt wurde. Mit dem um zirka 1515 entstandenen Dreiviertelporträt hatte Ticiano Vecellio „das von seinem Lehrer Giorgione entwickelte halbfigurige Aktionsbild zu geballter Dramatik gesteigert.“ Na bitte, wieder was gelernt. In der Tat bezeichnete das italienische Wort Bravo einen „Schergen im Auftrag eines Herrn“. Man nahm an, dass die Szene die Attacke des Gaius Lusius auf Trebonius zeigte, oder aber die Gefangennahme des Bacchus.

      Mit Mühe widerstand ich der Versuchung, die mir unbekannten Namen, also alle außer Bacchus, nachzuschlagen. Stattdessen blieb ich beim Suchbegriff „Bravo“.

      Neben der wenig überraschenden Verwendung als Applaus-Bekundung poppten unzählige Verweise auf die bekannte Jugendzeitschrift auf. Eine Weile blieb ich doch bei einem Artikel hängen, in dem Martin Goldstein gewürdigt wurde, „der Mann, der Dr. Jochen Sommer war“. Als „jüdischer Mischling ersten Grades“ verbrachte er sein 17. Lebensjahr in einem Zwangsarbeitslager der Nazis und später in einem Waldversteck nahe seiner Geburtsstadt Bielefeld. 1969 engagierte ihn die Bravo, weil er ein Sexualaufklärungsbuch veröffentlicht hatte, und der Rest ist Literaturgeschichte.

      Nebst einer Fruchtsaftmarke fand ich schließlich doch eine Korrelation von Bravo zu Mordfällen aus jüngerer Vergangenheit. Im Zusammenhang mit einer Kleinpartei, die für eine Periode im österreichischen Parlament vertreten war, stieß ich auf eine Aussage des Parteigründers. Der aus der Oststeiermark stammende, etwas exzentrische Milliardär hatte mit seiner Forderung nach der Todesstrafe aufhorchen lassen, und zwar für Berufskiller. Falls ein solcher „die Tochter eines Richters tötet, ist die Demokratie in Gefahr. Man muss das durchdenken.“

      Nun war der gute Mann auch sonst für allerlei von sich gegebenen Mumpitz berüchtigt. Jedoch hatte damals ein Boulevardblatt eine Verbindung zu einem Bombenanschlag in Südtirol konstruiert, dem tatsächlich eine Frau, deren Vater das Richteramt bekleidete, zum Opfer gefallen war. Die Zeitung zitierte „gewöhnlich gut informierte Kreise“. Denen zufolge wäre die Wiener Kriminalkommissarin Karin Fux seit Längerem auf der Spur eines Auftragsmörders, der unter dem Decknamen Bravo sein Unwesen triebe. Ein anderes, etwas seriöseres Medium verwies auf ein zwei Tage später erfolgtes Dementi besagter Beamtin. Nicht ohne süffisant zu belehren, dass es in Österreich, entgegen einer durch TV-Serien verbreiteten Ansicht, gar keine Kommissare gab, im Unterschied zu jenem Dienstgrad der deutschen Polizei. Vielmehr bekleidete Frau Fux den Rang einer Chefinspektorin.

      Selbstverständlich konnte der Mann, der mich in der Grazer Ordination für Gugu gehalten hatte, auch das alles, ebenso leicht wie ich, aus dem Internet erfahren haben.

      Mittlerweile war die rustikale Matrone ausgestiegen, nicht in Bruck, aber gleich danach in Kapfenberg. Ich zückte mein Handy und wählte die Nummer der Gruppenpraxis. Wie erwartet, war Professor Guthmann gerade nicht zu sprechen, da in einer Sitzung. Ich bat um Rückruf. Die Empfangsdame, deren entzückender kubanischer Akzent mir zuvor gar nicht aufgefallen war, versprach, das so bald wie möglich auszurichten.

      Mangels sinnvollerer Optionen checkte ich meine E-Mails. Viel Schrott, wie immer. Massenhaft Newsletter, die ich längst hätte abbestellen sollen. Ein gutes Dutzend Einladungen, sich an irgendwelchen Unterschriftenaktionen, Demonstrationen oder Solidaritätsauftritten zu beteiligen, alles unbezahlt, versteht sich. Seit dem Corona-Kahlschlag gab es bei Benefizveranstaltungen nicht einmal mehr Fahrtspesen und die früher

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