Sternstunden der Menschheit. Stefan Zweig

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Sternstunden der Menschheit - Stefan Zweig

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Aber ihre wirkliche Gefahr – und dies hat Mahomet richtig errechnet – ist die Ermüdung. In schweren Rüstungen fortwährend gegen die immer wieder vorpreschenden Leichttruppen kämpfend, ständig von einer Angriffsstelle zu der anderen springend, erschöpfen sie ein Gutteil ihrer Kraft in dieser aufgezwungenen Abwehr. Und als jetzt – schon beginnt nach zweistündigem Ringen der Morgen zu grauen – die zweite Sturmtruppe, die Anatolier, vorstürmen, wird der Kampf schon gefährlicher. Denn diese Anatolier sind disziplinierte Krieger, wohlgeschult und gleichfalls mit Maschenpanzern gegürtet, sie sind außerdem in der Überzahl und völlig ausgeruht, während die Verteidiger bald die eine, bald die andere Stelle gegen die Einbrüche schützen müssen. Aber noch immer werden überall die Angreifer zurückgeworfen, und der Sultan muß seine letzten Reserven einsetzen, die Janitscharen, die Kerntruppe, die Elitegarde des ottomanischen Heers. In eigner Person stellt er sich an die Spitze der zwölftausend jungen, ausgewählten Soldaten, der besten, die Europa damals kennt, und mit einem einzigen Schrei werfen sie sich auf die erschöpften Gegner. Es ist höchste Zeit, daß jetzt in der Stadt alle Glocken läuten, um die letzten halbwegs Kampffähigen an die Wälle zu rufen, daß man die Matrosen heranholt von den Schiffen, denn nun kommt der wahre Entscheidungskampf in Gang. Zum Verhängnis für die Verteidiger trifft ein Steinschlag den Führer der Genueser Truppe, den verwegenen Condottiere [63]Giustiniani, der schwer verwundet zu den Schiffen abgeschleppt wird, und sein Fall bringt die Energie der Verteidiger für einen Augenblick ins Wanken. Aber schon jagt der Kaiser selbst heran, um den drohenden Einbruch zu verhindern, noch einmal gelingt es, die Sturmleitern hinabzustoßen: Entschlossenheit steht gegen letzte Entschlossenheit, und für einen Atemzug noch scheint Byzanz gerettet, die höchste Not hat wider den wildesten Angriff gesiegt. Da entscheidet ein tragischer Zwischenfall, eine jener geheimnisvollen Sekunden, wie sie manchmal die Geschichte in ihren unerforschlichen Ratschlüssen hervorbringt, mit einem Schlage das Schicksal von Byzanz.

      Etwas ganz Unwahrscheinliches hat sich begeben. Durch eine der vielen Breschen der Außenmauern sind unweit der eigentlichen Angriffsstelle ein paar Türken eingedrungen. Gegen die Innenmauer wagen sie sich nicht vor. Aber als sie so neugierig und planlos zwischen der ersten und der zweiten Stadtmauer herumirren, entdecken sie, daß eines der kleineren Tore des inneren Stadtwalls, die sogenannte Kerkaporta, durch ein unbegreifliches Versehen offen geblieben ist. Es ist an sich nur eine kleine Türe, in Friedenszeiten für die Fußgänger bestimmt während jener Stunden, da die großen Tore noch geschlossen sind; gerade weil sie keine militärische Bedeutung besitzt, hat man in der allgemeinen Aufregung der letzten Nacht offenbar ihre Existenz vergessen. Die Janitscharen finden nun zu ihrem Erstaunen diese Tür inmitten des starrenden Bollwerks ihnen gemächlich aufgetan. Erst vermuten sie eine Kriegslist, denn zu unwahrscheinlich scheint ihnen das Absurdum, daß, während sonst vor jeder Bresche, jeder Luke, jedem Tor der Befestigung Tausende Leichen sich türmen und [64]brennendes Öl und Wurfspieße niedersausen, hier sonntäglich friedlich die Tür, die Kerkaporta, offen steht zum Herzen der Stadt. Auf jeden Fall rufen sie Verstärkung heran, und völlig widerstandslos stößt ein ganzer Trupp hinein in die Innenstadt, den ahnungslosen Verteidigern des Außenwalls unvermutet in den Rücken fallend. Ein paar Krieger gewahren die Türken hinter den eigenen Reihen, und verhängnisvoll erhebt sich jener Schrei, der in jeder Schlacht mörderischer ist als alle Kanonen, der Schrei des falschen Gerüchts: »Die Stadt ist genommen!« Laut und lauter jubeln die Türken ihn jetzt weiter: »Die Stadt ist genommen!«, und dieser Schrei zerbricht allen Widerstand. Die Söldnertruppen, die sich verraten glauben, verlassen ihren Posten, um sich noch rechtzeitig in den Hafen und auf die Schiffe zu retten. Vergeblich, daß Konstantin sich mit ein paar Getreuen den Eindringlingen entgegenwirft, er fällt, unerkannt erschlagen, mitten im Gewühl, und erst am nächsten Tage wird man in einem Leichenhaufen an den purpurnen, mit einem goldenen Adler geschmückten Schuhen feststellen können, daß ehrenvoll im römischen Sinne der letzte Kaiser Ostroms sein Leben mit seinem Reiche verloren. Ein Staubkorn Zufall, Kerkaporta, die vergessene Tür, hat Weltgeschichte entschieden.

      Das Kreuz stürzt nieder

      Manchmal spielt die Geschichte mit Zahlen. Denn genau tausend Jahre, nachdem Rom von den Vandalen so denkwürdig geplündert worden, beginnt die Plünderung Byzanz’. Fürchterlich, seinen Eiden getreu, hält Mahomet, der [65]Sieger, sein Wort. Wahllos überläßt er nach dem ersten Massaker seinen Kriegern Häuser und Paläste, Kirchen und Klöster, Männer, Frauen und Kinder zur Beute, und wie Höllenteufel jagen die Tausende durch die Gassen, um einer dem anderen zuvorzukommen. Der erste Sturm geht gegen die Kirchen, dort glühen die goldenen Gefäße, dort funkeln Juwelen, aber wo sie in ein Haus einbrechen, hissen sie gleich ihre Banner davor, damit die Nächstgekommenen wissen, hier sei die Beute schon mit Beschlag belegt; und diese Beute besteht nicht nur in Edelsteinen, Stoffen und Geld und tragbarer Habe, auch die Frauen sind Ware für die Serails, die Männer und Kinder für den Sklavenmarkt. In ganzen Rudeln werden die Unglückseligen, die sich in die Kirchen geflüchtet haben, hinausgepeitscht, die alten Leute als unbrauchbare Esser und unverkäuflicher Ballast ermordet, die jungen, wie Vieh zusammengebunden, weggeschleppt, und gleichzeitig mit dem Raub wütet die sinnlose Zerstörung. Was die Kreuzfahrer bei ihrer vielleicht ebenso fürchterlichen Plünderung an wertvollen Reliquien und Kunstwerken noch übrig gelassen, wird von den rasenden Siegern zerschlagen, zerfetzt, zertrennt, die kostbaren Bilder werden vernichtet, die herrlichsten Statuen zerhämmert, die Bücher, in denen die Weisheit von Jahrhunderten, der unsterbliche Reichtum des griechischen Denkens und Dichtens bewahrt sein sollte für alle Ewigkeit, verbrannt oder achtlos weggeworfen. Nie wird die Menschheit zur Gänze wissen, was für Unheil in jener Schicksalsstunde durch die offene Kerkaporta eingebrochen ist und wieviel bei den Plünderungen Roms, Alexandriens und Byzanz’ der geistigen Welt verlorenging.

      Erst am Nachmittag des großen Sieges, da die [66]Schlächterei schon beendet ist, zieht Mahomet in die eroberte Stadt ein. Stolz und ernst reitet er auf seinem prächtigen Roß vorbei an den wilden Szenen der Plünderung, ohne den Blick zu wenden, getreu bleibt er seinem Wort, den Soldaten, die ihm den Sieg gewonnen, ihr fürchterliches Geschäft nicht zu stören. Sein erster Weg aber gilt nicht dem Gewinn, denn er hat alles gewonnen, stolz reitet er hin zur Kathedrale, dem strahlenden Haupt von Byzanz. Mehr als fünfzig Tage hat er von seinen Zelten zu der schimmernd unerreichbaren Kuppel dieser Hagia Sophia sehnsüchtig hingeblickt: nun darf er als Sieger ihre bronzene Tür durchschreiten. Aber noch einmal bezähmt Mahomet seine Ungeduld: erst will er Allah danken, ehe er ihm für ewige Zeiten diese Kirche weiht. Demütig steigt der Sultan vom Pferde und beugt das Haupt tief auf den Boden zum Gebet. Dann nimmt er eine Handvoll Erde und streut sie auf sein Haupt, um sich zu erinnern, daß er selbst ein Sterblicher sei und seines Triumphes sich nicht überheben möge. Und nun erst, nachdem er Gott seine Demut gezeigt, richtet der Sultan sich hoch auf und betritt, der erste Diener Allahs, die Kathedrale Justinians, die Kirche der heiligen Weisheit, die Kirche Hagia Sophia.

      Neugierig und ergriffen betrachtet der Sultan das herrliche Haus, die hohen Wölbungen, schimmernd in Marmor und Mosaiken, die zarten Bögen, die aus Dämmerung sich zum Licht aufheben; nicht ihm, sondern seinem Gotte, fühlt er, gehört dieser erhabenste Palast des Gebets. Sofort läßt er einen Imam holen, der die Kanzel besteigt und von dort das mohammedanische Bekenntnis verkündet, während der Padischah, das Antlitz gegen Mekka gewendet, das erste Gebet zu Allah, dem Herrscher der Welten, in diesem [67]christlichen Dome spricht. Am nächsten Tage schon erhalten die Werkleute den Auftrag, alle Zeichen des früheren Glaubens zu entfernen; weggerissen werden die Altäre, übertüncht die frommen Mosaiken, und das hocherhobene Kreuz von Hagia Sophia, das tausend Jahre seine Arme entbreitet, um alles Leid der Erde zu umfassen, stürzt dumpf polternd zu Boden.

      Laut hallt der steinerne Ton durch die Kirche und weit über sie hinaus. Denn von diesem Sturze erbebt das ganze Abendland. Schreckhaft hallt die Nachricht wider in Rom, in Genua, in Venedig, in Florenz, wie ein warnender Donner rollt sie nach Frankreich, nach Deutschland hinüber, und schauernd erkennt Europa, daß dank seiner dumpfen Gleichgültigkeit durch die verhängnisvolle, vergessene Türe, die Kerkaporta, eine schicksalhaft zerstörende Gewalt hereingebrochen ist, die jahrhundertelang seine Kräfte binden und lähmen wird. Aber in der Geschichte wie im menschlichen Leben bringt Bedauern einen verlorenen Augenblick nicht mehr wieder, und

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