Sternstunden der Menschheit. Stefan Zweig

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Sternstunden der Menschheit - Stefan Zweig

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style="font-size:15px;">      Doch auch Mahomet ist ein Träumer, freilich ein Träumer jener anderen und viel selteneren Art, die es versteht, durch ihren Willen Träume in Wirklichkeit umzusetzen. Und während jene Galeonen sich schon sicher wähnen im [51]Hafen des Goldenen Horns, entwirft er einen Plan von so phantastischer Verwegenheit, daß er innerhalb der Kriegsgeschichte den kühnsten Taten Hannibals und Napoleons ehrlich gleichzusetzen ist. Byzanz liegt vor ihm wie eine goldene Frucht, aber er kann sie nicht greifen: das Haupthindernis für diesen Griff und Angriff bildet die tief eingeschnittene Seezunge, das Goldene Horn, diese blinddarmförmige Bucht, welche die eine Flanke von Konstantinopel sichert. Einzudringen in diese Bucht ist praktisch unmöglich, denn am Eingange liegt die Genuesenstadt Galata, der Mahomet zur Neutralität verpflichtet ist, und von dort ist die eiserne Sperrkette quer bis zur Feindesstadt gespannt. Mit frontalem Stoß kann darum seine Flotte nicht in die Bucht, nur vom inneren Bassin her, wo das genuesische Terrain endet, wäre die christliche Flotte zu fassen. Aber wie eine Flotte schaffen für diese Binnenbucht? Man könnte eine bauen, gewiß. Aber das würde Monate und Monate dauern, und so lange will dieser Ungeduldige nicht warten.

      Da faßt Mahomet den genialen Plan, seine Flotte vom äußern Meere, wo sie nutzlos ist, über die Landzunge in den Innenhafen des Goldenen Horns hinüber zu transportieren. Dieser atemberaubend kühne Gedanke, mit Hunderten von Schiffen eine bergige Landzunge zu überschreiten, erscheint von vorneweg so absurd, so unausführbar, daß die Byzantiner und die Genuesen von Galata ihn ebensowenig in ihre strategische Rechnung stellen wie vordem die Römer und nachher die Österreicher die rapiden Alpenübergänge Hannibals und Napoleons. Nach aller irdischen Erfahrung können Schiffe nur im Wasser fahren, nie aber eine Flotte über einen Berg. Doch eben dies ist allezeit das wahre [52]Merkzeichen eines dämonischen Willens, daß er Unmögliches in Wirklichkeit verwandelt, immer erkennt man nur daran ein militärisches Genie, daß es im Kriege der Kriegsregeln spottet und im gegebenen Augenblick die schöpferische Improvisation einsetzt statt der erprobten Methoden. Eine ungeheure, eine in den Annalen der Geschichte kaum vergleichbare Aktion beginnt. In aller Stille läßt Mahomet zahllose Rundhölzer herbeischaffen und von Werkleuten zu Schlitten zimmern, auf welche man dann die aus dem Meer gezogenen Schiffe festlegt wie auf ein bewegliches Trockendock. Gleichzeitig sind schon Tausende Erdarbeiter am Werke, um den schmalen Saumpfad, der den Hügel von Pera hinauf und wieder hinunter führt, möglichst für den Transport zu ebnen. Um aber die plötzliche Ansammlung von so vielen Werkleuten vor dem Feind zu verschleiern, läßt der Sultan an jedem Tag und in jeder Nacht über die neutrale Stadt Galata hinweg eine fürchterliche Kanonade aus Mörsern eröffnen, die an sich sinnlos ist und nur den einen Sinn hat, die Aufmerksamkeit abzulenken und die Berg- und Talreise der Schiffe von einem Gewässer ins andere zu verdecken. Während die Feinde beschäftigt sind und nur vom Lande her einen Angriff vermuten, setzen sich die zahllosen runden Holzrollen, reichlich mit Öl und Fett getränkt, in Bewegung, und auf dieser riesigen Walze wird nun, jedes in seiner Schlittenkufe, von unzähligen Büffelpaaren und unter der nachschiebenden Hilfe der Matrosen ein Schiff nach dem anderen über den Berg hinübergezogen. Kaum daß die Nacht jeden Einblick verhüllt, beginnt diese mirakulöse Wanderung. Schweigsam wie alles Große, vorbedacht wie alles Kluge vollzieht sich das Wunder der Wunder: eine ganze Flotte wandert über den Berg.

      [53]Das Entscheidende bei allen großen militärischen Aktionen ist immer das Überraschungsmoment. Und hier bewährt sich großartig Mahomets besonderes Genie. Niemand ahnt etwas von seinem Vorhaben – »wüßte ein Haar in meinem Bart von meinen Gedanken, ich würde es ausreißen«, hat einmal dieser genial Hinterhältige von sich gesagt –, und in vollkommenster Ordnung, während prahlerisch die Kanonen an die Mauern donnern, vollzieht sich sein Befehl. Siebzig Schiffe werden in dieser einen Nacht des 22. April von einem Meere zum anderen über Berg und Tal, durch Weinberge und Felder und Wälder transportiert. Am nächsten Morgen glauben die Bürger von Byzanz zu träumen: eine feindliche Flotte, wie von Geisterhand hergetragen, segelt bewimpelt und bemannt im Herzen ihrer unnahbar vermeinten Bucht; noch reiben sie die Augen und verstehen nicht, woher dieses Wunder kam, aber Fanfaren und Zimbeln und Trommeln jubeln schon unter ihrer bisher vom Hafen beschirmten Seitenmauer, das ganze Goldene Horn mit Ausnahme jenes engen neutralen Raumes von Galata, wo die christliche Flotte eingekapselt ist, gehört durch diesen genialen Coup dem Sultan und seiner Armee. Ungehindert kann er jetzt auf seiner Pontonbrücke seine Truppen gegen die schwächere Mauer heranführen: damit ist die schwache Flanke bedroht und die ohnehin schon spärliche Reihe der Verteidiger auf weiteren Raum verdünnt. Enger und enger hat sich die eiserne Faust um die Kehle des Opfers geschlossen.

      [54]Europa, hilf!

      Die Belagerten täuschen sich nicht mehr. Sie wissen: nun auch in der aufgerissenen Flanke gepackt, werden sie nicht lange Widerstand leisten hinter ihren zerschossenen Mauern, achttausend gegen hundertfünfzigtausend, wenn nicht baldigst Hilfe kommt. Aber hat nicht feierlichst die Signoria von Venedig zugesagt, Schiffe zu entsenden? Kann der Papst gleichgültig bleiben, wenn Hagia Sophia, die herrlichste Kirche des Abendlandes, in Gefahr schwebt, eine Moschee des Unglaubens zu werden? Versteht Europa, das in Zwist befangene, durch hundertfache niedere Eifersucht zerteilte, noch immer nicht die Gefahr für die Kultur des Abendlandes? Vielleicht – so trösten sich die Belagerten – ist die Entsatzflotte längst bereit und zögert nur aus Unkenntnis, die Segel zu setzen, und es genügte, brächte man ihnen die ungeheure Verantwortung dieses todbringenden Säumens zum Bewußtsein.

      Aber wie die venezianische Flotte verständigen? Das Marmarameer ist übersät von türkischen Schiffen; mit der ganzen Flotte auszubrechen, hieße sie dem Verderben preisgeben und außerdem die Verteidigung, bei welcher doch jeder einzelne Mann zählt, um ein paar hundert Soldaten schwächen. So beschließt man, nur ein ganz kleines Schiff mit winziger Bemannung aufs Spiel zu setzen. Zwölf Männer im ganzen – gäbe es Gerechtigkeit in der Geschichte, ihr Name müßte so berühmt sein wie jener der Argonauten, und doch kennen wir keines einzelnen Namen – wagen die Heldentat. Auf der kleinen Brigantine wird die feindliche Flagge gehißt. Zwölf Männer kleiden sich auf türkische Art mit Turban oder Tarbusch, um keine [55]Aufmerksamkeit zu erregen. Am 3. Mai wird um Mitternacht die Sperrkette des Hafens geräuschlos gelockert, und mit gedämpftem Ruderschlag gleitet das kühne Boot hinaus, geschützt von der Dunkelheit. Und siehe: das Wunderbare geschieht, und unerkannt durchfährt das winzige Schiff die Dardanellen bis ins Ägäische Meer. Immer ist es gerade das Übermaß der Kühnheit, das den Gegner lähmt. An alles hat Mahomet gedacht, nur nicht an dies Unvorstellbare, daß ein einzelnes Schiff mit zwölf Helden eine solche Argonautenfahrt durch seine Flotte wagen würde.

      Aber tragische Enttäuschung: kein venezianisches Segel leuchtet am Ägäischen Meer. Keine Flotte ist bereit zum Einsatz. Venedig und der Papst, alle haben sie Byzanz vergessen, alle vernachlässigen sie, mit kleiner Kirchturmpolitik beschäftigt, Ehre und Eid. Immer wiederholen sich in der Geschichte diese tragischen Augenblicke, daß, wo höchste Zusammenfassung aller geeinten Kräfte zum Schutze der europäischen Kultur notwendig wäre, auch nicht für eine Spanne die Fürsten und die Staaten ihre kleinen Rivalitäten niederzuhalten vermögen. Genua ist es wichtiger, Venedig zurückzustellen, und Venedig wiederum Genua, als für einige Stunden vereint den gemeinsamen Feind zu bekriegen. Leer ist das Meer. Verzweifelt rudern die Tapfern auf ihrer Nußschale von Insel zu Insel. Aber überall sind die Häfen schon vom Feinde besetzt und kein befreundetes Schiff wagt sich mehr in das kriegerische Gebiet.

      Was nun tun? Einige der zwölf sind mit Recht mutlos geworden. Wozu nach Konstantinopel zurück, noch einmal den gefährlichen Weg? Hoffnung können sie keine bringen. Vielleicht ist die Stadt schon gefallen; jedenfalls [56]erwartet sie, wenn sie zurückkehren, Gefangenschaft oder Tod. Aber – herrlich immer die Helden, die niemand kennt! – die Mehrzahl entscheidet dennoch für die Rückkehr. Ein Auftrag ist ihnen gegeben, und sie haben ihn zu erfüllen. Man hat sie um Botschaft gesandt, und sie müssen die Botschaft heimbringen, mag sie auch die bedrückendste sein. So wagt dieses winzige Schiff allein wieder den Weg zurück durch die Dardanellen, das Marmarameer und die feindliche Flotte. Am 23. Mai, zwanzig Tage nach der Ausfahrt, schon hat man längst in Konstantinopel das Fahrzeug verloren gegeben, schon denkt niemand mehr an Botschaft und Rückkehr, da

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