Dr. Norden Box 10 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Du schreibst mit einem Verbrecher? Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«
Mit dieser Frage hatte die langjährige Assistentin der Praxis Dr. Norden gerechnet. Trotzdem schoss ihr das Blut in die Wangen.
»In der Wochenendausgabe sind doch immer Bekanntschaftsanzeigen. Da bin ich vor ein paar Wochen über Manfreds Annonce gestolpert. Er ist wirklich ein sehr netter Mann…«
»Und sitzt wahrscheinlich völlig zu Unrecht hinter Gittern«, mutmaßte Danny und nahm die nächste Patientenkarte von seinem Stapel. Es wurde Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen. Doch Wendys Antwort wartete er noch ab.
»Nein.« Ihre Stimme klang danach, als wollte sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. »Er hat es bereut, Steuern hinterzogen zu haben, und zum Ausgleich einen ansehnlichen Betrag als Spende an einen gemeinnützigen Verein überwiesen«, erwiderte sie mit deutlichem Triumph in der Stimme. »Außerdem findet er die Erfahrung gar nicht schlecht. Er erzählte davon, dass er im Gefängnis von seinem hohen Ross heruntergekommen ist.«
»Interessant! Unser Urs Hansen hat genau dasselbe behauptet«, mischte sich Dr. Norden in das Gespräch ein. Er kam von einem Hausbesuch und hatte eben die Praxis betreten. »Wenn man diesen Beteuerungen Glauben schenken dürfte, dann würde nie mehr ein einziger Häftling rückfällig werden.«
Wendy blickte von ihrem Computer auf und sah ihren Chef an.
»Haben Sie einschlägige Erfahrungen?«, erkundigte sie sich, und Daniel erzählte von dem schwarzen Schaf, das in Fees Familie aufgetaucht war.
»Drogen und Raub sind natürlich ein anderes Kaliber als Steuerhinterziehung«, räumte Janine ein.
»Trotzdem bin ich derselben Meinung wie Ihre Frau. Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Vor allen Dingen, wenn er so jung ist wie Urs Hansen.« Es war Wendy anzuhören, dass ihr diese Worte aus tiefstem Herzen kamen.
Janine legte den Kopf schief und musterte ihre Kollegin.
»Und wann gehst du ihn im Gefängnis besuchen?«, stellte sie die Frage, die sich quasi aufdrängte.
»Woher weißt du das?« Wenn möglich, wurden Wendys Wangen noch dunkler.
Janine lachte.
»Ganz einfach: neue Frisur, ein neues Kleid … Diesen Schluss hätten sogar unsere beiden Männer gezogen.«
Dem Seniorchef brannte die Zeit unter den Nägeln, und er musste endlich an seinen Schreibtisch. Da er aber kein Spielverderber sein wollte, schickte er seinem Sohn einen Blick aus schmalen Augen.
»Ich glaube nicht, dass wir uns das gefallen lassen müssen«, scherzte er. »Lass uns arbeiten gehen.«
»Einverstanden.« Doch Danny zögerte. »Aber nur, wenn ich als Wiedergutmachung heute Mittag eine Mini-Calzone bekomme.« Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, das er parat hatte, und Wendy und Janine lachten.
»Seltsam. Woher wusste ich, dass es so kommen würde, und habe deshalb gleich mehr gekauft?«
»Sie sind eben eine kluge Frau!«, lobte Daniel und machte sich endlich auf den Weg in sein Sprechzimmer, um mit der Behandlung seiner Patienten zu beginnen.
*
Als Felicitas Norden an diesem Spätnachmittag das Café ›Schöne Aussichten‹ betrat, hatte sie kaum Augen für Tatjana hinter dem Tresen. Auch die schwangere Mitarbeiterin Marla begrüßte sie geistesabwesend, während sie sich umsah.
»So oft, wie du in letzter Zeit hier bist, bekommst du demnächst einen eigenen Stammtisch«, witzelte Tatjana, die herbeigekommen war, um die Mutter ihres Freundes zu umarmen.
»Hmm, das wäre eine schöne Idee!« Felicitas schien ihr gar nicht richtig zugehört zu haben.
Noch immer sondierten ihre Augen jeden Tisch in dem kleinen Café, als sie an einer Person hängen blieben. Der junge Mann saß in der hintersten Ecke und versteckte sich hinter der Speisekarte, die aber zu klein war für sein Gesicht. Obwohl es Jahre her war, erkannte Fee in den erwachsenen Zügen den kleinen Urs, mit dem sie damals im Sanatorium ihrer Eltern gespielt hatte.
»Suchst du jemanden?«, fragte Tatjana, der Fees Konzentration nicht entgangen war.
»Ich glaube, ich hab ihn gerade gefunden.«
Tatjanas Blick folgte dem von Fee. Trotz ihrer Sehbehinderung wusste sie sofort, wer dort saß. Sie hatte den jungen Mann hereinkommen sehen und gleich gemerkt, wie unsicher sein Schritt, wie misstrauisch seine ganze Ausstrahlung war.
»Kennst du den jungen Mann?«, fragte sie die Ärztin.
»Kennen ist übertrieben«, erwiderte Fee, ohne den Blick von Urs wenden zu können. »Es ist viele Jahre her. Aber wegen ihm bin ich hier. Bringst du mir bitte zwei Milchkaffee?« Ohne eine weitere Erklärung machte sich Fee auf den Weg in den hinteren Teil des Cafés, vorbei an den unterschiedlichen Stühlen und Tischen, die Tatjana auf Flohmärkten gekauft und zum Teil eigenhändig restauriert hatte. Dazu passte der dunkle Holzboden, der im Kontrast stand zu der ungewöhnlichen, silberfarbenen Decke. Kissen mit kostbaren Bezügen aus Indien und die Glasvasen mit Blumen komplettierten die heimelige Einrichtung. Wirklich zu Hause fühlten sich die Gäste aber auch durch Marlas Bilder, die neben den Werken anderer Künstler die Wände schmückten.
Doch auf all diese liebevollen Kleinigkeiten achtete Felicitas diesmal nicht. An diesem Nachmittag gehörte ihre Aufmerksamkeit allein Urs Hausen.
»Du bist doch Urs, nicht wahr?«, fragte sie, als sie zu ihm an den Tisch trat.
Als bemerke er sie erst jetzt, ließ der junge Mann die Karte sinken und sah die Ärztin an. Im nächsten Moment erkannte er sie. Seine Miene entspannte sich, und ein Lächeln huschte über seine Lippen.
»Tante Fee!« Obwohl Urs längst erwachsen war, hatte seine Stimme etwas Kindliches, und auch seine Augen leuchteten wie die eines Kindes an Weihnachten, als er sie zur Begrüßung umarmte. Hinter ihrem Rücken hustete er.
»Sag bitte nur Fee. Wenn du mich Tante nennst, fühl ich mich so alt«, lächelte Felicitas.
Sie zog die Jacke aus, hängte sie über den Stuhl und setzte sich zu ihm, als Marla auch schon die Getränke servierte. Dabei stieß sie mit dem Tablett an den Tisch, und der Milchkaffee schwappte über.
»Kannst du nicht aufpassen?« Urs Stimme knallte wie ein Peitschenhieb, und sowohl Marla als auch Fee erschraken.
Als Urs die Wirkung bemerkte, sank er sofort in sich zusammen.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und schickte Marla ein Bubenlächeln, das nicht so recht zu dem Männergesicht passen wollte. »Ich bin ein bisschen nervös. Man trifft ja nicht alle Tage seine Kinderliebe.« Er sah Fee an, hielt die Hand vor den Mund und hustete.
»Schon gut. Danke, Marla.« Felicitas war gerührt. Sie nickte der jungen Bäckerin zu, die sichtlich erleichtert den Rückzug antrat. »Hast du dich erkältet?«, wandte sie sich dann an ihr Gegenüber. Die Sorge in ihren Augen war offensichtlich.
»Keine Ahnung. Diesen Husten hab ich mir